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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Glühwürmchenglanz der Glut. Der kleinere Schatten beugte sich noch einmal über ihn.
    »Simon«, flüsterte Binabik, »gibt es andere Träume, die noch nicht erwähnt wurden? Von denen du uns nichts erzählt hast?«
    Simon schüttelte langsam den Kopf. Es gab nichts, nichts außer Schatten, und er war zu müde zum Reden. Noch hatte er den Geschmack der Furcht vor dem verbrannten Ding an der Tür auf der Zunge; er wünschte nur eines, sich dem Sog des Vergessens auszuliefern, zu schlafen, schlafen …
    Aber das war nicht so leicht. Obwohl er die Augen fest geschlossen hielt, standen noch die Bilder des Feuers und der Katastrophe vor ihm. Er wälzte sich hin und her und fand keine Lage, die seine verspannten Muskeln einlud, sich zu lockern. Er hörte das leise Gespräch des Trolls und der Zauberin wie das Kratzen von Ratten in den Wänden.
    Endlich verstummten auch diese Laute, und der feierliche Atem des Windes drang wieder an sein Ohr. Er schlug die Augen auf. Geloë saß allein am Feuer, die Schultern hochgezogen wie ein Vogel, der sich vor dem Regen duckt, die Augen halb geöffnet; er wusste nicht, ob sie schlief oder in das verglimmende Feuer sah.
    Sein letzter wacher Gedanke, der langsam aus seinem tiefsten Innern stieg und dabei flackerte wie ein Feuer unter der See, galt einem hohen Berg, einem Berg mit einer Krone aus Steinen. Das war im Traum gewesen, oder doch nicht? Er hätte daran denken … es Binabik erzählen sollen.
    Ein Feuer loderte auf in der Finsternis des Berggipfels, und er hörte das Knarren hölzerner Räder … Traumräder …

    Als der Morgen kam, brachte er keine Sonne mit. Vom Fenster der Hütte konnte Simon die dunklen Baumspitzen am anderen Ende der Mulde sehen, der See selber trug aber einen Mantel aus dichtem Nebel. Sogar unmittelbar unter dem Fenster war kaum das Wasser zu erkennen . Ein träger Dunst löste die Konturen der Dinge auf. Der Himmel über der düsteren Reihe der Bäume war grau und ohne Tiefe.
    Geloë hatte den jungen Malachias abkommandiert, mit ihr nacheinem bestimmten heilkräftigen Moos zu suchen, und Binabik zurückgelassen, um Leleth zu versorgen. Der Zustand des Kindes schien den Troll geringfügig zu ermutigen, aber als Simon das blasse Gesichtchen und die schwachen Bewegungen der schmalen Brust sah, fragte er sich, welchen Unterschied der kleine Mann bemerkte, den er, Simon, nicht entdecken konnte.
    Aus einem Stapel dürrer Äste, die Geloë ordentlich in einer Ecke aufgeschichtet hatte, machte Simon ein neues Feuer und half dann dabei, die Verbände des Mädchens zu erneuern. Als Binabik das Laken von Leleths Körper schälte und die Bandagen abnahm, zuckte Simon zusammen, gestattete sich aber nicht wegzusehen. Ihr ganzer Rumpf war blau von Prellungen und schlimmen Bissspuren. Unter dem linken Arm war die Haut bis zur Hüfte aufgerissen. Als Binabik die Wunden gesäubert und mit breiten Leinenstreifen neu verbunden hatte, blühten kleine Blutrosen durch den Stoff.
    »Hat sie wirklich Aussichten, am Leben zu bleiben?«, fragte Simon. Binabik zuckte die Achseln, während seine Hände vorsichtig einige Knoten in die Bandagen machten.
    »Geloë hält es für möglich«, antwortete er. »Sie ist eine Frau von strengem und geradem Sinn, in deren Wertschätzung Menschen nicht höher stehen als Tiere, und doch ist diese Wertschätzung sehr hoch. Ich meine, sie würde nicht gegen das Unmögliche ankämpfen.«
    »Ist sie wirklich eine Zauberfrau, wie sie gesagt hat?«
    Binabik deckte das kleine Mädchen wieder mit dem Laken zu und ließ nur das magere Gesichtchen frei. Ihr Mund stand ein wenig offen; Simon konnte sehen, dass sie beide Vorderzähne verloren hatte. Ihn überkam ein jähes, schmerzliches Mitleid mit dem Kind – allein mit ihrem Bruder im wilden Wald, verirrt, gefangen, gequält, geängstigt. Wie konnte der Herr Usires eine solche Welt lieben?
    »Eine Zauberfrau?« Binabik erhob sich. Draußen trappelte Qantaqa die Brücke zur Haustür hinauf; Geloë und Malachias mussten gleich kommen. »Eine Weise Frau ist sie gewiss und ein Wesen von seltener Stärke. Wenn ich recht verstehe, bedeutet Zauberfrau in deiner Sprache ›Hexe‹, jemand, der böse ist, der eurem Teufel gehört und seinen Nachbarn Schaden zufügt. Das trifft auf die Valadaganz sicher nicht zu. Ihre Nachbarn sind die Vögel und Waldbewohner, und sie hegt sie wie eine Herde. Trotzdem hat sie Rimmersgard vor vielen Jahren verlassen – vor vielen, vielen Jahren –, um hierher zu ziehen.

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