Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
er von der alten Magd Irbanij gelernt hatte:
»Speichelfluss und Rattenzahn,
die Warze muss ins Jenseits fahr’n.
Bei Toten ruh’n in Ewigkeit,
Für mich ist sie Vergangenheit.«
Dann packte er die Ratte am Schwanz, stellte sich mit dem Rücken zum Mond und wirbelte sie dreimal über dem Kopf, um mit einem zweiten Zauber auf Nummer sicher zu gehen.
»Flieg hinfort, du Rattenvieh,
mit dir mit die Warze zieh.
Halt sie fest am fremden Ort,
Nimm sie von mei’m Daumen fort.«
Er ließ das Tier los, so dass es über seine linke Schulter geschleudert wurde, und hörte, wie es durch das Laub rauschte und dann irgendwo aufschlug. Erleichtert atmete er durch. Das wäre geschafft, die Warze war er los.
In diesem Moment der Erleichterung entdeckte er plötzlich ein schwaches Licht am östlichen Ende des Friedhofs, dort, wo auch seine Mutter lag, gleich neben den Opfern des großen Minenunglücks, das dreißig Jahre zurücklag. Langsam und ruckelnd schwebte es herbei. Ben stand starr vor Angst. War das ein Irrlicht? Oder doch eine verdammte Seele?
Da nahm er leises Murmeln und schlurfende Schritte wahr und wollte schon erleichtert aufatmen, weil es wohl doch ein lebender Mensch war, oder auch mehrere, die mit einer Laterne unterwegs waren. Aber dann fragte er sich, was jemand um Mitternacht auf dem Friedhof tat, wenn er nicht gerade eine Warze loswerden wollte? Konnte der Zauberjetzt schon wirken, oder würde seine Warze auch dann zu wuchern beginnen, wenn ihn nur jemand sah, solange er noch auf dem Friedhof war? Das wollte er nicht riskieren, und so huschte er möglichst leise und rasch davon. Einmal noch drehte er sich kurz um, aber das Licht war entweder hinter den Bäumen verschwunden, oder der Besitzer hatte es gelöscht, weil er Ben gehört hatte. Er rannte noch schneller, immer nah an großen Gräbern und Bäumen entlang, um nicht gesehen zu werden. Er wollte schließlich keine riesige Warzenhand bekommen!
Keuchend erreichte er die Mauer, kletterte über einen alten, verwitterten Grabstein am Rand des Friedhofs auf sie hinauf und sprang auf der anderen Seite in den Olivenbaum, hangelte sich dort hinab und hetzte davon. Niemand folgte ihm.
EIN NEUES GESICHT
U nd du hast keine Ahnung, wer das auf dem Friedhof war?«, fragte Yanko am nächsten Tag, als Ben ihm sein nächtliches Abenteuer erzählt hatte.
»Nicht die geringste.«
Sie saßen in der heißen Mittagssonne auf dem kurzen, alten Steg des oberen Fonksees und hatten die Angeln ausgeworfen, der Friedhof war fern.
Der See war nicht groß, maß vielleicht hundert, höchstens hundertfünfzig Schritt im Durchmesser, doch sein Grund fiel rasch und steil ab, er musste ungeheuer tief sein. An seinem anderen Ufer erhob sich das Wolkengebirge, dessen kahle Gipfel mit Schnee bedeckt waren, selbst im Sommer. Ben konnte sich nicht vorstellen, dass die Trolle nun dort oben in der Kälte lebten, vielleicht waren sie ja weitergezogen, in die Länder nördlich davon. Fahrende Händler hatten erzählt, dass die Menschen jenseits der Berge selbst fast wie Trolle aussahen, in primitiven Holzhütten ohne Fenster lebten und grob und laut feierten.
Mehrere Bäche und Rinnsale von den Gipfeln ringsum flossen in den Fonksee, der beinahe reglos dalag. Nur manchmal kräuselte sich die Oberfläche, wenn ein Fisch in ihrer Nähe nach einem Insekt oder anderem Futter schnappte. Ein sanftes Plätschern war über das leise Rauschen der Schleierfälle hinweg kaum zu hören.
Das Wasser aus den Bergen verließ den Fonksee nur wenige Schritte neben dem Steg, es floss hinüber zu dem bestimmt
dreihundert Schritt hohen Abhang in ihrem Rücken und stürzte als Schleierfälle über mehrere Stufen hinab ins Tal, wo es sich mit dem Dherrn vereinte und durch Trollfurt hindurch weiter in den Süden floss. Wenn seine Mutter ihn früher schlimm geschlagen hatte, hatte Ben unterhalb der schimmernden Schleierfälle kleine Holzboote ins Wasser gelassen und sich gewünscht, er würde selbst an Bord sein und nach Süden getragen werden. Das hatte er sich bis zu dem Tag gewünscht, an dem er ein Boot in den Wellen hatte kentern sehen, danach hatte er sich vorgestellt, seine Mutter wäre an Bord.
Seine Mutter hatte nie ein Boot betreten, doch sie war tatsächlich im Dherrn gestorben. Eines Nachts vor über zwei Jahren, nachdem sie Ben wieder einmal als Nichtsnutz beschimpft und geschlagen hatte und er sich mit Zornestränen auf dem Strohsack hin und her gewälzt und geschworen hatte, eines Tages würde
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