Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
frisch gefunden.«
»Wo?«
»Hinter dem Haus des Schulmeisters.«
»Das passt«, sagte Yanko, auch wenn Ben nicht wusste, was daran passen sollte. Yanko gab ihm die Ratte zurück. »Das ist eine gute Ratte, deine Warze ist so gut wie weg.«
Ben schob sie wieder in die Tasche, ganz vorsichtig, nicht dass jetzt noch der Kopf oder der Schwanz abbrachen, dann wäre sie unbrauchbar. Wenn Yanko sagte, es war eine gute Ratte, dann stimmte das auch. Er musste gut auf sie aufpassen. Ben spuckte auf die dicke Warze auf dem oberen Gelenk seines
linken Daumens und verrieb den Speichel langsam, während er ins Tal hinunterblickte.
Das Städtchen Trollfurt lag zu ihren baumelnden Füßen in der warmen Nachmittagssonne, geteilt durch den glitzernden Fluss Dherrn. An seinem rechten Ufer standen die meisten bewohnten Häuser, vor allem die der angesehenen Familien, der große weiße Tempel des Sonnengottes und der verwinkelte, vieleckige Tempel aus bemaltem Granit für die anderen Götter. Das Rathaus, die ehrbaren Geschäfte und das Spital des miesepetrigen Heilers Torreghast fanden sich dort ebenso wie die Gasthöfe, das Standbild des Trollbezwingers und Drachenreiters Dagwart, das Schulhaus und einfach alles Wichtige.
Ben selbst lebte auf der linken Seite des Flusses und sogar ein gutes Stück von der Brücke entfernt. Direkte Nachbarn hatte er keine, die meisten Häuser auf der linken Dherrnseite waren verlassen und mehr oder weniger verfallen. Dort hatten die Familien der Minenarbeiter gelebt, bevor die Mine geschlossen wurde und die Arbeiter weitergezogen waren, nach Graukuppe, Drakenthal und in andere Städte, wo nach Metallen oder Stein geschürft wurde. Ben hatte sich aus den verlassenen Gebäuden schon den einen oder anderen Ziegel geholt, um sein Dach auszubessern. Auch wenn ihm ein bisschen Regen eigentlich nichts ausmachte.
»Magst du heute Nacht mit auf den Friedhof kommen?«, fragte Ben, weil man ja nie wusste, ob nicht doch ein Geist auftauchte, selbst wenn nicht Freitag war.
»Spinnst du? Wenn der Zauber funktionieren soll, musst du allein sein.«
»Sicher?«
»Ganz sicher. Der alte Jorque hat einmal sogar drei Freunde auf den Friedhof mitgenommen, als er sich eine Warze von
der Zehe weggezaubert hat, und sie alle haben zugesehen, und das hat den Zauber ins Gegenteil verwandelt. Drei Tage später sprossen ihm auf dem ganzen Fuß Warzen, eine direkt neben der anderen, und dann wuchsen Warzen auf den Warzen. Der Jorque hat in keinen Stiefel mehr gepasst! Bald war der Fuß doppelt so groß wie sein gesunder, und dann sogar dreimal so groß. Die Warzen haben derart gewuchert, du hast ihnen beim Wachsen richtig zusehen können. Was immer er fortan versucht hat, nichts hat geholfen, sie haben ihm den Fuß abnehmen müssen, und Jorque wurde zum Säufer, um das alles zu vergessen. Seine drei Freunde sind davongelaufen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben in Trollfurt. Es tut mir leid, Ben, aber du musst allein auf den Friedhof. Dich zu begleiten, ist viel zu riskant.«
Ben nickte dankbar. Dabei hatte er immer gedacht, Jorque hätte seinen Fuß vor Jahren in der Mine verloren, aber das sagte der alte Mann wohl nur, weil es besser klang und ihm die Leute so immer mal eine Münze zusteckten. Es war wirklich gut, dass Yanko so viel wusste. Ben wollte sich gar nicht ausmalen, wie sich ein wild wucherndes Warzengebirge über seine Hand ausbreitete.
Sie kletterten vom Raubritterfelsen und stiegen langsam wieder nach Trollfurt hinab, denn Yanko musste pünktlich zum Abendessen zu Hause sein. Am Stadttor verabschiedeten sie sich und verabredeten sich für den nächsten Morgen, um am oberen Fonksee zu fischen. Einen Moment lang sah Ben seinem Freund nach, der pfeifend und mit den Händen in den Taschen die Straße entlanglief, dann schlenderte er langsam in Richtung Brücke. Auf ihn wartete niemand mit dem Essen.
Seit dem Tod seiner Mutter lebte Ben allein und hielt sich
mit dem Verkauf von Fischen und anderen Gelegenheitsarbeiten über Wasser oder klaute sich mal bei diesem, mal bei jenem Bauern einen Apfel oder einen Eimer Kartoffeln. Die Knechte drückten meist ein Auge zu und hetzten die Hunde nicht auf ihn, doch die meisten guten Familien verboten ihren Kindern, mit ihm zu reden oder - schlimmer noch - etwas zu unternehmen. Ben ging weder zur Schule noch arbeitete er; ein schlimmeres Vorbild konnten sich die besorgten Väter und Mütter nicht vorstellen. Und nur Yanko pfiff auf die Meinung seiner Eltern.
Eine
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