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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elinor Lipman
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hatte ich seinen Gesichtsausdruck gesehen, da wusste ich, dass ich völlig unnötig den Charakter eines Mannes in Frage gestellt hatte, der immerhin Neugeborene baden und ihren frisch entbundenen Müttern Anweisungen zum Stillen geben konnte.
    Sobald ich eingezogen war, fragte ich Leo, ob er es angesichts der Schar von Verehrerinnen unter seinen Kolleginnen und der geografisch mehr als begehrenswerten Wohnung wirklich notwendig gehabt hatte, einen Zettel ans schwarze Brett zu hängen.
    »Ich wollte keine Krankenschwester als Hausgenossin.«
    Ich wollte wissen, warum nicht.
    »Sie wissen schon.«
    Ich sagte, ich wisse nicht. Ich sei nicht besonders begabt auf dem Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen. Sei es, weil es sonst zu viel Fachsimpelei gäbe? Die Arbeit quasi nach Hause gebracht würde?
    »Weniger die Arbeit. Mehr das, was neben der Arbeit so läuft. Das Buschtelefon ist sehr aktiv. Angenommen, ich bekäme Besuch. Und angenommen, jemand von der Neonatologie sähe diesen Besuch morgens aus meinem Zimmer kommen. Das spräche sich sofort herum.«
    Ich dankte ihm für sein Vertrauen in meine Diskretion und sagte: »Ich interessiere mich nicht im mindesten für Ihr Sozialleben. Und außerdem würde ich ein Buschtelefon nicht erkennen, wenn es vor meiner Nase klingelte.«
    »Hervorragend«, sagte Leo.
    Auch die übrigen Grundregeln einer Wohngemeinschaft befolgten wir gewissenhaft: Miete und Nebenkosten teilten wir uns halbe-halbe. Jeder kaufte sich sein Essen selbst und hatte das Recht, Schimmelkulturen des anderen zu entsorgen. Die Hausarbeiten erledigten wir nach einem wöchentlichen Rotationsprinzip. Die Regeln für einen höflichen Umgang miteinander besagten Folgendes: sieben Minuten zum Duschen, bis zu zwanzig Minuten zum Baden. Keine Musik nach 22 Uhr. Kein schmutziges Geschirr in der Spüle, der Müll wurde rechtzeitig hinausgetragen, bevor der Eimer überquoll oder zu riechen begann. Und nach einem halben Jahr würde er mich wissen lassen, ob unser Arrangement verbesserungsbedürftig war.
     
    Wenn wir uns in der Klinik über den Weg liefen, stellte Leo mich fröhlich den anderen vor. Besonders nett war das, wenn es sich bei dem ›anderen‹ um eine putzige kleine Patientin handelte - wir zu dritt im Aufzug. Dann sagte er: »Das ist meine Freundin Alice. Sie ist Ärztin. Ja, stell dir vor - Chirurgin. Ist das nicht toll?«
    Ach, hätte ich doch lächeln können, wie es sich für eine liebe Frau Doktor gehörte, und irgendetwas Aufmunterndes sagen. Wäre ich doch weniger zugeknöpft gewesen, dann hätte mich vielleicht ein Vater aus der Abteilung am Tag der offenen Tür zum Mittagessen mit seiner Zwölfjährigen an seinen Tisch gebeten.
    Ach ja, und natürlich kannte jede Krankenschwester in der Klinik Leo. Er war der Freund aller - von der Hilfsschwester bis zur OP-Schwester -, egal wo, was und wann sie arbeiteten. Wenn ich Männer beraten müsste, wie sie am besten Frauen kennen lernen, wie sie überall bekannt und beliebt werden, ohne Popstar zu sein, oder auch nur ihren Arbeitsplatz zu verlassen, würde ich ihnen sagen: Macht es wie Leo. Besorgt euch einen Job in einem Lehrkrankenhaus. Lasst immer wieder durchklingen, dass ihr eure medizinische Ausbildung bei der U.S. Army gemacht habt. Tragt weiße Berufskleidung. Lächelt oft und gern. Hängt euch einen kleinen Stoffbären ans Stethoskop.
    Ich selbst hatte kaum Freunde, als ich an die Klinik kam. Wenn ich glauben durfte, was man allgemein über mich dachte, dann war ich eine Trauerweide. Während meines Studiums hörte ich Kommilitonen montags manchmal über gemeinsam verbrachte Wochenenden, Zechtouren oder Hafenrundfahrten reden, ich selbst hatte damit keinerlei Erfahrung. Als ich mich für Chirurgie entschied, meinten meine Laborpartner - die zukünftigen Hausärzte und die, die gut mit Leuten konnten - »Passt!«
    Ich machte meinen Abschluss als Zweitbeste des Jahrgangs und hielt das für ein gutes Omen für meine Zeit im Praktikum. Das war eine Fehlprognose. Es fiel mir schwer, die beiden Aspekte eines Patienten miteinander zu vereinbaren - das körperlose Stück Haut, das auf das Skalpell wartet, sowie Seele, Geist und ein Herz im übertragenen Sinn. Ich hielt es für sinnvoll, die beiden Seiten zu trennen, zu vergessen, dass ich ein Lebewesen aufschnitt; so zu tun, als hätte ich es mit meinen Formaldehydleichen aus dem Anatomiekurs zu tun.
    Woher kam denn nur diese erschreckende Unfähigkeit, mit lebenden Menschen umzugehen? Ich hielt mich

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