Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
Er verkaufte zwar Schokolade, aber so wie Pfadfinderinnen Kekse verkaufen - einmal pro Jahr, und von Tür zu Tür.
Wir sahen einander erst bei der Verhandlung wieder. Im Zeugenstand behauptete er steif und fest, es handle sich um eine echte Liebesheirat. Dass er mich liebe und ich ihn. Dass wir ein reges, gigantisches Eheleben hätten. Dass man ihn belogen und ihm eine Nasenoperation versprochen habe. Dass er am Boden zerstört sei. Und das sei auch der Grund, weshalb er, der Geschädigte - momentan wegen des durch Atteste belegten psychischen Schadens erwerbsunfähig - sich gezwungen sah, Dr. Thrift um Unterhaltszahlung zu bitten.
Der Richter entschied, rasch und nervös, zugunsten des Klägers - das war ich.
Ich kehrte umgehend an meinen Arbeitsplatz zurück. Am 1. Juli stand ich eine Stufe über den Neuzugängen. Sie waren vor Angst und Ehrfurcht wie gelähmt. Zwei von sieben waren Frauen. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nahm ich sie beiseite und sagte: »Wenn etwas schief geht, und irgendetwas wird einmal schief gehen, dann kommt zu mir. Wenn Dr. Kennick euch ein Kompliment macht und sagt: ›Ich habe schon Schlimmeres gesehen‹, dann wisst, dass er mich damit meint, und dass ich es überlebt habe. Hier ist meine Telefonnummer. Ihr könnt mich jederzeit anrufen.«
Auf seine nebulöse Art hatte Dr. Kennick beschlossen, mich zu mögen. Nicht, weil ich so gigantische Fortschritte gemacht hätte, sondern deshalb, weil ich für ihn die Ärztin im Praktikum war, die um eine Woche Urlaub angesucht und es sich dann anders überlegt hatte. Die ihre Flitterwochen für ihr Team geopfert hatte.
Ich möchte nicht mehr plastische Chirurgin werden. Dieses Ziel gehört zu der Welt jenseits des schmachvollen Abgrunds, des Ray Russo Passes , den ich erst vor kurzem überwunden habe. Und, wie verschiedene Ratgeber angemerkt haben, das Leben Ausgestoßener in entlegenen Winkeln der Welt in Ordnung zu bringen hatte vielleicht mehr damit zu tun, mein eigenes Leben zu ändern als damit, die Welt zu retten. Dr. Shaw meinte, ich solle mir das mit der Gynäkologie und Geburtshilfe noch einmal überlegen, und ich war auch sehr versucht. Wir besprachen es bei mehreren Mittagessen, doch dann beschloss ich, lieber zu bleiben, wo ich war, statt irgendwo ganz von vorne anzufangen, wo es der allzeit bereiten menschlichen Anteilnahme eines Dr. Shaw bedurft hätte. Ich war, wie sich herausstellte, besser für das geeignet, was Chirurgen tun - mich einem Problem zu nähern, dieses durch eine Operation zu beseitigen und mich durch Rückzug zu entfernen.
Diesseits des Abgrunds steht, wie Sylvie es nennt, »Alice Thrift, WG« - wiedergeboren. Mein neues Ich erfreut sich des häuslichen Friedens und der Ellbogenfreiheit einer Wohnung im Obergeschoss eines Zweifamilienhauses in Brookline Village. Es gibt drei Schlafzimmer. Im Hinblick auf den noch fernen Tag, an dem John Paul, geboren im September, abgestillt ist, haben wir Leo das große mit der Nische für das Kinderbett überlassen. Tante Sylvie und Tante Alice können es gar nicht erwarten, dass er bei uns übernachtet.
Vaterschaft ist anstrengend, und Meredith ist nie allzu weit weg. Ihre täglichen Telefonanrufe unterrichten Leo von den entscheidenden Stationen in John Pauls Leben - wie er schläft, was er zu sich nimmt und was er von sich gibt -, viel mehr als ein Vater, der nicht Pfleger auf einer Säuglings-Intensivstation ist, eigentlich wissen will. Jeden zweiten Tag lassen wir den Anrufbeantworter rangehen, damit wir unser Abendessen ungestört genießen können.
Sylvie ist dieses Jahr Erste Assistenzärztin für Innere Medizin - eine Ehre, über die sie nicht ein einziges Wort verlor, solange meine Karriere auf dem Spiel stand. Wir drei machen uns einen Spaß daraus, von einer Gemeinschaftspraxis zu fantasieren, die wir eines Tages eröffnen - fantasieren deshalb, weil eine Internistin, eine Allgemeinchirurgin und ein Säuglingspfleger kein wirklich sinnvolles Team ergäben. Leo hat auch schon einen Namen für diese Eselei: ›Glücksfallklinik‹ - Praxis direkt unter der Wohnung; Öffnungszeiten: 9 - 17 Uhr; Erholungsschlaf nach Bedarf, weil Bett nur eine Treppe höher; Vorstandswechsel nach dem Rotationsprinzip; keine männlichen Oberärzte; und niemals ein böses Wort.
In den vergangenen Monaten haben wir drei uns zusammen einen Esszimmertisch und einen Flickenteppich gekauft, wohl wissend, dass der Tag kommen könnte, an dem einer von uns seinen Anteil
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