Der dreizehnte Apostel
ich habe immer gespendet«, erklärte sie und sprühte sich am Zeltrand die Hände mit einem Mittel gegen Moskitos ein. »Und dann habe ich jemanden kennengelernt, der drei Monate hier war, und ich habe mir gesagt, das sollte ich auch tun, nur einen Sommer lang. Und dann bin ich immer wieder hergekommen.«
Lucy war schuldbewusst . »Ich kenne das … aber Sie sind wirklich hergekommen, und es gibt nur wenige Menschen, die das tun.« Wie oft hatte Lucy geplant, einen Sommer lang in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, hatte sich Broschüren besorgt, mit Leuten geredet, die es gemacht hatten – aber nie war etwas daraus geworden, immer war es an ihrer verdammten Faulheit und Passivität gescheitert … »Ich finde Sie sehr heroisch«, platzte Lucy heraus.
Sie sah zu, wie die Krankenschwester das Spray im Schrank verschloss und dabei erklärte, daß die Männer alles mitgehen ließen, was nicht festgebunden war – um es für ihre notleidenden Familien zu verkaufen. »Die Arbeit hier ist ein Fass ohne Boden«, fuhr die Frau fort. »Diese drei Monate im Jahr sind absolut
nichts, nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.«
»Aber es sind drei Monate mehr, als die meisten Leute zu geben bereit sind«, widersprach Lucy.
»Nein, jeder Gedanke an das Gute, das man möglicherweise tut, wird aufgefressen von der Riesigkeit dieser Aufgabe. Wie ist die offizielle Zahl? Sieben Millionen Menschen, die in diesem Land verhungern. Die Rebellen der Tigray haben einen Konvoi der UNO mit Medikamenten und Nahrungsmitteln überfallen und alles vernichtet, was sie nicht an die sudanesische Regierung verkaufen konnten …« Sie seufzte. »Und der Sudan, wo zwanzig Millionen Menschen einer Hungersnot entgegensehen, weigert sich zuzugeben, daß es Probleme gibt. Die Sudanesen glauben, daß hinter jedem Sack Hafermehl der CIA steckt.«
Hunderte von Geschichten. Es schien wirklich, als ob Dämonen in den Regierungen säßen, Agenten eines immensen , unabwendbaren Unheils, die Le bensmitteltransporte überfallen ließen und über den Hunger der anderen Seite jubelten; Nationen, die nichts hatten und um dieses Nichts kämpften. Der nun schon 28 Jahre währende Bürgerkrieg in Äthiopien. 1985 stellten Mengistus Männer in einem Dorf in der Nähe von Gondar eine Reihe von Kindern auf und erschossen sie der Größe nach. Unvorstellbar grausame Willkür! In einer Stadt in Tigre zwangen die Äthiopier Frauen und Kinder, sich vor einem sowjetischen Panzer auf den Boden zu legen, der dann immer wieder über die Leiber hinrollte und ein menschliches Straßenpflaster daraus machte. Und die Unwissenheit. Die Leute hier kurierten Cholera mit Unmengen von kleinen Schnitten, Blutegeln und Aderlässen – was meistens zum Tod führte. In anderen Gegenden, hatte die Krankenschwester gehört, meinten die Leute, daß Dämonen die Krankheit verursachten und daß man sie ausbrennen müsse. Sie erzählte von einem Neunjährigen, den seine Eltern gezwungen hatten, eine brennende Kohle zu schlucken .
»Nein«, sagte die junge Frau abschließend, »du weißt immer, daß du in ein Flugzeug steigen kannst, und das war es dann für dich, es ist vorbei. Du kannst wieder zurück zu deiner heißen Dusche, kannst einfach in den Laden um die Ecke gehen, wenn du Hunger hast. Und dann spätabends, kurz vor dem Einschlafen, siehst du ein Gesicht vor dir, ein Kindergesicht. Mit den Fliegen, die sich unter dem Augenlid verkriechen – ein Kind, das dich ansieht und die kleine schwarze Hand nach etwas zu essen ausstreckt.
Das ist deine Belohnung«, sagte sie ausdruckslos. »Diese wöchentliche, manchmal tägliche Erinnerung daran, daß Tausende von Menschen, die du gesehen hast, wahrscheinlich sterben. Oder schon tot sind.«
Lucy fühlte sich zu dieser unsentimentalen Frau hingezogen. »Sie haben gesagt, daß Sie ein Kind haben?«
Einen Moment lang wandte die Frau den Blick ab. »Jason. Er ist sieben.«
»Wer passt denn auf ihn auf, während Sie … äh, ich meine, Ihre Eltern leben doch nicht mehr …«
»Sein Vater hat das Sorgerecht«, erklärte die Schwester nüchtern. Lucy grübelte darüber nach, wie das hatte passieren können. Diese barmherzige Frau, eine Mutter für die Bedürftigen der Welt, hatte ihr Kind einfach in die Obhut des Vaters gegeben. Aber das war jetzt, in der Gegenwart. Vielleicht war sie in einem vergangenen Leben nicht so gut gewesen. Eine Trinkerin? Eine Selbstmörderin? Vielleicht hatte sie ihr Kind vernachlässigt oder misshandelt ? War
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