Der dreizehnte Apostel
freiwillig zur Mitarbeit, was ihr das erste Lächeln einbrachte, das sie an diesem schwierigen Tag zu sehen bekam. Nachdem sie eine Stunde lang in der Kantine der Helfer Teller und Tassen sortiert, Mehlsäcke gezählt und in der bemerkenswert gut ausgestatteten Küche, in der Mengen von Brot gebacken und Getreide gemahlen wurde, abgewaschen hatte, hatte sie ein besseres Gefühl.
Weißt du, tadelte sie sich selbst, früher in St. Eulalia hast du solche Sachen gemacht. An den Wochenenden beim Basar von St. Vincent de Paul hast du Secondhand-Waren, die für einen guten Zweck verkauft wurden, mit Preisschildern ausgezeichnet und die Preise mit dem Kugelschreiber darauf geschrieben, während Schwester … wie hat sie geheißen? Eine Frau spanischer Abkunft, Schwester Asuncion – irgend so etwas. Ich habe ihr Englisch kaum verstanden und war jeden Samstag sicher, sie würde feststellen, daß ich falsche Preise aufgeschrieben und St. Vincent in den Bankrott getrieben hätte. Irgendwann einmal bin ich dann auf den Gedanken gekommen – nein, meine Schwester Mary brachte mich darauf: Das Ganze ist etwas für Versager. Warum lebst du nicht wie normale Leute auch? Willst du dein Leben lang mit einem Haufen Nonnen herumhängen?
Lucy wischte sich über die Stirn und machte eine Pause, um ein wenig über das Gelände zu spazieren. Sie kam an einem Zelt vorbei, wo kleine Kinder, übersät von Fliegenschwärmen, seltsam apathisch dasaßen und sie mit großen Augen aus eingefallenen Gesichtern anstarrten. Lucy ging über die Straße zu dem Teil des Lagers, der für die Latrinen bestimmt war. Jede Minute gingen ein paar von den Tausenden Menschen dorthin, um auszutreten. Dieses abgegrenzte Feld betrachtete man als weit genug entfernt vom Lager, um das Ungeziefer fernzuhalten und die Wasservorräte nicht zu vergiften – wenn es überhaupt Wasser gab. Ein Schuss krachte. Im schwindenden Licht sah Lucy einen ausgemergelten Mann, der einen Schuss abgefeuert hatte – Hunderte von Krähen, die in den Exkrementen nach jedem winzigen Körnchen Nahrung suchten, flogen auf, verärgert krächzend.
Die Berge könnten irgendwo in Amerika sein, das Areal könnte ein Trockengebiet irgendwo auf der Welt sein, der Himmel hat dasselbe Violettblau wie ein herbstlicher Abendhimmel in Illinois … und doch ist hier Äthiopien, dachte Lucy und schloss die Au gen. »Sehen Sie«, sagte O’Hanrahan, der plötzlich neben ihr stand, »ein Äthiopier würde nie einen wilden Vogel umbringen, auch nicht aus Hunger. Vögel waren von entscheidender Bedeutung beim Sieg der Christen über die Moslems zu Beginn des Jahrhunderts.« Als Ras Tafari, Haile Selassie, nach dem Ersten Weltkrieg gegen das Moslemregime kämpfte, brachte er den Abun, den Erzbischof von Äthiopien, dazu, die andere Seite zu exkommunizieren, sie offiziell zu verfluchen und zu prophezeien, daß sie ebenso verurteilt würden wie Judas. Dann verstärkten moslemische Truppen aus Nordafrika den Kampf gegen die Christen. Es gelang ihnen, einen Boten mit wichtigen Informationen durch Ras Tafaris Reihen zu einem anderen Bataillon zu schicken, das die Streitmacht der Christen aufreiben sollte … Aber dann schwärmten Tausende von Bienen aus und stachen den Boten zu Tode, bevor er seine Nachrichten weitergeben konnte.
O’Hanrahan, der sich an die phantastische Geschichte erinnerte, fuhr fort: »Und in einer zweiten
gefährlichen Situati on waren es Vögel, die Haile Se lassie retteten.«
»Er hatte auch Macht über die Vögel?«
»Er war ein Gott, erinnern Sie sich? Nein, Sie sind zu jung, um das noch zu wissen. Kaiser, König der Könige, Löwe Judäas, Haile Selassie, von Marcus Garvey und Millionen Jamaikanern zum Gott erklärt.« O’Hanrahan lachte leise. »1966 wäre ich fast für den Fachbereic h hingefahren, um bei seinem Be such in Jamaika dabei zu sein. Dort sollte sich der schwarze Messias zeigen, und viele Militante waren bereit, seinem Ruf zu den Waffen zu folgen und die weiße Welt anzugreifen. Selassie beachtete die Rastafaris gar nicht, sondern sagte ihnen, sie sollten ihre eigenen Länder in Ordnung bringen, statt nach Afrika zurückzukehren.«
»Was war nun mit den Vögeln?«
»Ach ja. Die feindlichen Moslemtruppen rückten unbemerkt gegen das christliche Lager vor, und bei einem Überraschungsangriff hätten sie sicher gesiegt. Aber die Vögel im nahe gelegenen Sumpf schwärmten aus, stießen auf das Lager nieder, krächzten und weckten den Ras Tafari. Der Feind wurde
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