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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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sie folgen dem strömenden Blut in das Loch, wo man es zusammen mit den Knochen schnell verbrennt. Dann ist der Exorzismus vollzogen. Das Schaffleisch muss anschließend in zwölf Teile – für die zwölf Apostel – geschnitten und gegessen werden. »Die westliche Welt hat die Magie aus der Religion verbannt, nicht wahr?« meinte Lucy, die nach diesem Tag sehr müde, aber dabei offen für andere Dinge war, ohne sie zu verurteilen.
    »Wissen Sie, Luce, das wird das Unglück des 21. Jahrhunderts sein, vielleicht die intellektuelle Tragödie des postmodernen Menschen. Eines Tages wird Afrika voll von marktwirtschaftlichen Methodisten und Episkopalen sein, sie werden anständige Regierungen und Videorecorder und blöde amerikanische Komödien haben – und dies hier, die Krankheiten, der Hunger, die Unwissenheit und die Korruption, das alles wird zurückgegangen sein, und sie werden erreicht haben, was sie sein wollen: ein stolzer, vereinter Kontinent von Nationen auf dem Niveau der Ersten und Zweiten Welt. Aber wird das noch Afrika sein?« Sie gingen langsam um das Dorf herum. Auf der anderen Seite der Straße, in den Flüchtlingslagern, wimmelte es nun vor Aktivität; Rauch stieg von Feuerstellen auf, an denen man magere Essensratio nen und Wasser kochte und sich wärmte.
    »Äthiopische Engel«, sagte O’Hanrahan in einem Ton, der ankündigte, daß etwas Obszönes folgen würde, »haben zwei Augen, zwei Hände, zwei Füße und zwei Penisse.«
    »Ach, wirklich?«
    »Ein geheiligtes Geheimnis«, erklärte O’Hanrahan, »zu unergründlich für jemanden wie mich. Andere Überlieferungen behaupten, daß Engel überhaupt keine Genitalien haben. Die meisten Äthiopier würden wohl zustimmen, daß die Dämonen Genitalien
    haben, nicht aber die Engel. Ich habe einmal eine äthiopische Ikone von einem Heiligen gesehen, der gegen einen Dämon mit riesigem Glied kämpfte. Der Penis eines Dämons ist immer erigiert.«
    Genau, dachte Lucy, das ist auch meine Erfahrung. »Nun, das sind alle schmutzigen abessinischen Geschichten, die ich bis jetzt kenne«, gab der Professor auf. »Aber ich werde weiter daran arbeiten.«
    Sie kehrten um und gingen wieder auf das Latri nenfeld zu. Eine Frau, mager wie ein Skelett, erhob sich aus ihrer Hockstellung und wickelte ihr Gewand wieder um sich. Kurz darauf flogen die Krähen zu der Stelle und begannen, in den frischen Exkrementen herumzupicken, immer in Konkurrenz mit den Nagetieren und den ewig kreisenden Geiern. Wieder schoss ein Mann in die Luft, um die Vögel auseinanderzutreiben. Der Knall hallte von den violett umschatteten Bergen wider.
    »Abba Selama hat mir erzählt, daß manche Vögel das ewige Leben haben, weil sie tatsächlich auf dem Kreuz saßen«, sagte O’Hanrahan. Der Mann auf dem Feld feuerte noch einmal. »Wie gesagt, ein Äthiopier wird kaum je einen Vogel töten.« Lucy lächelte.
    »Sie könnten sie essen und ihre Familien ernähren.«
    O’Hanrahan sah zuerst auf sie und dann auf das tiefer werdende Blau des Himmels. »Was wäre das wert, wenn sie glauben müssten , einen heiligen Vogel getötet zu haben, der auf dem Kreuz des Erlösers gesessen hat?«
    25. August 1990
    Am Morgen beim Kaffee unterhielt sich Lucy mit ihrer neuen Freundin, der Krankenschwester. Sie hatten sich gestern vorgestellt, aber Lucy hatte den Namen wieder vergessen und fürchtete, es könnte verletzend wirken, wenn sie jetzt noch einmal nachfragte. Eine junge Frau, um die dreißig. Eine weiße Frau mit dichten schwarzen Augenbrauen und kurzem Haar – so daß kein Ungeziefer darin leben kann, witzelte sie –, gekleidet in Khakihosen aus Armeebeständen, die lose an ihrem Körper hingen; vermutlich hatte sie hier viel Gewicht verloren.
    »Die Äthiopier«, lachte die Frau, »halten mich immer für einen Mann. Sie können die Weißen nicht besonders gut unterscheiden.« Man konnte sie auch wirklich für einen Mann halten, denn vom Kisten schleppen war sie breitschultrig und muskulös geworden, aber bei näherer Betrachtung sah man, daß sie eine Frau war, sogar mit zarten Händen und lackierten Fingernägeln. Sie war geschieden und hatte ein Kind. Sie hatte ein Jahr am Krankenhaus von Minneapolis gearbeitet, und dann war ihre Mutter gestorben; ihr Vater war schon tot gewesen. Da die sicheren Einwände der Mutter nun wegfielen, hatte die Krankenschwester einer Laune nachgegeben und das amerikanische Flüchtlingskomitee angerufen, das Lager im Sudan und in Äthiopien unterhielt.
    »Wissen Sie,

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