Der dritte Berg
formuliert als Feststellung. Ich wusste damals noch nicht, dass sein ganzes Leben bloß aus Affirmationen bestand, und ein paar wenigen Fragen.
Die Tür zum Arbeitszimmer Christians steht offen. Der Raum wird in der genialen, ursprünglichen Unordnung gehalten. Überall kleine, unregelmäßige Büchertürmchen. Auf dem Schreibtisch kein Notebook, nur ein kaum benutzter Bildschirm in der Ecke. Stattdessen ein Stapel in Baumwolltücher eingeschlagener Palmblattmanuskripte. Mit zwei Fingern streiche ich über eines von ihnen.
»Corypha umbraculifera.«
Die Stimme in meinem Rücken gehört Sophia. Ich wende mich um. Sophia ist die Sekretärin des Südasieninstituts. Seit einem Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen. Ein Jahr, in dem sie pro Monat mindestens zwei Pfund abgenommen hat. Sie berechnet ihre Chancen bei Christian mit der Anzahl der Knochen, die aus ihrem Fleisch ragen, als Maggie-Imitat.
»Die Palmblattmanuskripte«, sagt sie. »Neuerdings bringt Christian nur noch solche. Seit dem siebten Jahrhundert Standard in Indien. Man hat die Blätter dieser Palmenart, corypha umbraculifera , gekocht, sie dann in Milch eingelegt, sie getrocknet und anschließend mit einem Griffel geritzt. In die Ritzen kam Kohlenstofftinte. Und so was müssen wir hier entziffern.«
Sophia trägt ein grünbraunes Wollkleid und darüber einen breiten Ledergürtel. Dazu eine kleine Halskette aus Halbedelsteinen, die gut zu ihrem drahtigen roten Haar und den Sommersprossen passt.
»Schreckliche Sache, das mit Maggie«, sagt sie. »Hat sich von der Scheidung nicht erholt.«
Das ist Sophias Welt. Christian ließ sich von Maggie scheiden, nicht umgekehrt. Außerdem hat Maggie bestimmt Selbstmord begangen.
Ich widerspreche nicht.
»Irgendetwas Neues?«
»Nö. Ich mache mir inzwischen aber wahnsinnige Sorgen um Christian. Er beantwortet keine Mails. Nichts. Macht er doch sonst nicht. Höchstens mal eine Woche Funkstille, wenn er in einer staubigen Bibliothek in Gorakhpur hockt und vor Arbeitseifer sein Handy abschaltet.«
»Ich wette, Christian hat Forschungsprojekte, von denen ich keine Ahnung habe.«
»Pah, der Meister läuft doch zu dir, wenn er nur einen einzigen Gedanken denkt.« Alle hier nennen Christian Meister. Nur Sophia sagt meist Christian.
»Raus mit der Sprache, woran arbeitet ihr.«
Sophia kommt aus Osnabrück, sie ist Anfang dreißig und arbeitet seit ungezählten Jahren an ihrer Doktorarbeit, deren genaues Thema mir unbekannt ist. Ich glaube, sie befasst sich mit medizinischen Traktaten auf Sanskrit. Und deshalb unterstützt sie Christian auch als wissenschaftliche Assistentin. Sophia arbeitet in einer Höhle von Raum, wo sie neben Christians Aufträgen sämtlichen Schriftverkehr und alle Geschäftsangelegenheiten des Südasieninstituts erledigt, und ich frage mich stets, ob sie dafür angemessen bezahlt wird. Bisher war sie für mich immer bloß eine gnomenhafte, wenn auch einen Meter achtzig große Erscheinung, die so sehr mit diesem Raum verwachsen ist, dass man sie draußen auf der Straße gar nicht wiedererkennen würde, fehlte doch der wichtigste Teil ihres Wesens.
»Wie immer. Er buddelt irgendwo in Nepal oder in Indien Manuskripte aus. Dann tanzt er hier an und wir legen los. Alle vollständig versklavt.«
Ich sehe Sophia auffordernd an. Sie hat meine Frage noch nicht beantwortet. Meine Hartnäckigkeit gefällt ihr nicht.
»Sei nicht albern, Bernard«, sagt Sophia und windet ihre lange Gestalt; ihr Oberlippenmuttermal fängt zu tanzen an. »Der übliche Kram bloß. Wir sind dabei, ein paar Handvoll Pflanzenfunde zu identifizieren. Sieht nicht besonders spektakulär aus. Immerhin haben wir dafür einen großen Scheck der Europäischen Union erhalten. Den wir uns aber mit den Botanikern dort oben teilen müssen.« Sie nickt in eine unbestimmte Richtung, hinaus in die Stadt. Und mit dieser Geste verstummt sie.
Ich habe es hier mit der wahrscheinlichen Verbindung zwischen Christian und Maettgen zu tun: Fust kennt Schmithausen-den-Botaniker, Schmithausen-der-Botaniker kennt Maettgen-den-Zellbiologen. Dazu braucht es Maettgens Interesse an der ayurvedischen Medizin nicht.
Ich könnte mir vorstellen, dass ich Sophias Kleid und ihre jetzt so übermäßig schlanke Figur ganz besonders mag, und ich frage mich, wie weit ich für Maggie gehen soll. Sollte Sophia etwas wissen, hat Christian ihr aber mit Sicherheit ein ehernes Schweigegelübde abgenommen. Wir gehen hinüber in Sophias Arbeitshöhle. Die wird vor
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