Der dritte Berg
bemerkt meine ratlosen Augen, die einen Augenblick lang die Mail Iskander Mahans über Vasco da Gama vor sich sehen, und er fasst sich kurz.
»Am Ende kommt man«, sagt er, »nach der Beschäftigung mit dieser ausufernden Thematik der europäischen Eroberungen in Asien, und da insbesondere in Indien – zu einem überraschenden Gedanken, zu einem Topos aus der Antike, der augenscheinlich alle Wissenschaft …«
In diesem Augenblick beginnt Schmithausens Telefon zu klingeln. Festnetz. Schmithausen kann seinen Satz nicht zu Ende führen.
Nun verwendet selbst ein beinahe siebzigjähriger Professor die genannte Art der Kommunikation nicht mehr sehr oft. Deshalb sieht Schmithausen zunächst verdattert drein. Alle Begeisterung ist mit einem Mal dahin. Da ist Sorge in seinem Gesicht, und nicht nur, weil er sich nicht daran erinnert, wo das Telefon steht. Dann läuft er zur Treppe, die ins Obergeschoss führt. Ein schnurloses Telefon müht sich dort auf einem Tischchen mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft um Aufmerksamkeit.
»Schmithausen, hallo … wer sind Sie?«, ruft Schmithausen zwei- oder dreimal in das Telefon und legt dann auf. Darauf greift er rasch zu seinem Mobiltelefon und stellt eine Verbindung her.
»Ja«, sagt er, er flüstert. »Am besten sofort.« Schmithausen will nicht, dass ich höre, was er sagt. Aber er befindet sich nur fünf oder sechs Meter von mir entfernt. Schmithausen unterbricht die Verbindung und steckt das Telefon zurück in seine Jacketttasche.
»Sie müssen mich entschuldigen«, sagt er, zögernd auf mich zuschreitend. Verlegen streckt er mir seine Hand entgegen. »Aber ich bekomme unerwarteten Besuch. Ich hoffe dennoch, ich habe Ihnen weiterhelfen können. – Und was die Sache mit Horst Maettgen betrifft, erlauben Sie mir, Ihnen einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben, Bernard: Denken Sie das Ungewöhnliche.«
Verdutzt erhebe ich mich. Schmithausen ist sehr still geworden. Ich verlasse das Haus. Und als ich die Straße hinunter in Richtung meines Wagens gehe, etwas schwermütig, wie durch Morast, nehme ich drei Dinge wahr:
einen schnell fahrenden Audi A6, der in Richtung Schmithausens Haus unterwegs ist, und hinter dessen Steuer ein mir bekannter Mann sitzt, der vorgibt, mich nicht zu sehen: Konrad Kanner;
einen alten, sehr bedächtigen BMW mit Grazer Kennzeichen, durch dessen Windschutzscheibe ein junger Mann mit längerem Haar lugt und mich mit bösen Äuglein mustert;
eine Veränderung der Lichtverhältnisse, so, als hätten die ionischen Ladungen der Atmosphäre sich verschoben.
NACH EIN PAAR SCHRITTEN überquere ich die Straße und schleiche zurück zu Schmithausen. Als ich an seinem Gartenzaun ankomme, drücke ich mich hinter einen Betonpfeiler. Dem Mann aus dem Grazer BMW werden soeben Handschellen angelegt. Von Konrad Kanner höchstpersönlich. Schmithausen streckt sein durchaus erschüttertes Gesicht aus der Eingangstür hervor, und ein weiterer Mann, vielleicht ein Polizist in Zivilkleidung, biegt, aus dem hinteren Gartenteil kommend, um die Hausecke und nimmt Konrad Kanner den Mann ab, wobei er nicht vergisst, diesem gewissenhaft mit dem Knie mehrere Stöße in die Rippen zu versetzen. Konrad Kanner lacht, auch Schmithausens Miene heitert sich auf, dann schüttelt man einander die Hände. Der Polizist schickt sich an, den Verhafteten abzuführen.
Ich laufe zu meinem Wagen und fahre hinaus aus der Stadt. Ich meide Gablitz und nehme eine kleine Straße durch den Wienerwald. Ich versuche es mit Christians Telefonnummer. Er bleibt unerreichbar, wie schon seit Wochen. Seit vorgestern Abend weiß ich jedoch, dass er das Telefon wohl einfach abgeschaltet hat. Von Südwesten stampft ein Cumulonimbus capillatus incudes auf Wien zu, dessen Weg durch die Veränderung der Atmosphäre angekündigt worden ist. Ein mittelgroßer, über dem Hügelland aufsteigender Gewitteramboss; sichtbar gewordenes Ergebnis einer trockenadiabatischen Höhenfahrt von feuchten Luftmassen, die sich bis zur Taupunkttemperatur abgekühlt haben. Bei dieser Höhenfahrt ist Wasserdampf kondensiert, Quellwolken sind entstanden, die sich daraufhin gefährlich zusammenrotten und vertikale Winde produzieren. Die Geschwindigkeitsunterschiede der Winde sowie die elektrischen Ladungen von Eisteilchen führen zu revolutionären Blitzexplosionen, begleitet von Kanonendonner und dem Absturz großer Wassermassen, Eis und konvektivem Niederschlag in Form großer Tropfen. Der Cumulonimbus hat eine kleine
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