Der dritte Berg
Asphalt.
Ratten pfeifen vor dem Ertrinken, Gavials jagen.
Das Fleisch auf meinen Knochen wird bald verrotten und stinken, meine Organe werden explodieren, und mein Geist wird fliegen lernen. Hinaus in das Nichts, vollkommen allein in der Ewigkeit, allein mit der Angst vor der absoluten Leere. Eine böse Gegenwart zischt durch mich; die Toten haben mich bald eingekreist.
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Sophia sitzt in meinem Zimmer, als ich gegen sechs Uhr morgens ruÃschwarz, durchnässt, ölig zurückkomme. Ich frage nicht, wie sie hineingekommen ist. Sie faltet die Hände vor ihrem aufgerissenen Mund, als sie mich sieht.
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AM SPÃTEN VORMITTAG erwache ich zum ersten Mal. Sophia sitzt in einem Sessel am FuÃende des Bettes und liest. Sie beschützt mich. Dann erwache ich mittags zum zweiten Mal. Ich erwache hinein in eine zähe Wolke, sie fühlt sich an wie Knetmasse, oder wie dicke Melasse â als wäre sie aus der Hölle hervorgetropft. Sophia sitzt immer noch da und schaut in ihr Notebook. Sie bemerkt nicht, dass ich sie ein paar Sekunden lang anstarre. Um drei Uhr erwache ich wieder. Die Leuchtziffern am Fernsehgerät zeigen mir die Zeit an. Sophia ist nicht da. Doch dann höre ich sie drauÃen im Salon mit gedämpfter Stimme telefonieren. Ich kann nicht sagen, mit wem sie spricht. Diesmal ist die Masse dünner, federleicht beinahe, wie eine Wolke aus Dampf oder wie aufgeschlagenes Eiklar. Die Wolke bedrückt mich. Ich schlafe wieder ein, und gegen fünf Uhr abends erwache ich zum letzten Mal. Sophia ist nicht mehr da.
Ich krieche aus dem Bett und gehe hinaus in den Salon. Ich gehe wie in einen dicken Nebel hinein. Ich setze mich auf das Sofa. Dann mache ich mir mit drei Säckchen Kaffeepulver starken Kaffee. Auf dem Tisch liegt eine Plastiktüte. Mit Dasguptas kleiner Mappe darin. Während meiner nächtlichen Wanderungen habe ich sie in diese Tüte gesteckt.
Ich öffne die Mappe und setze mich wieder hin. In der Mappe befindet sich ein Bericht. Er umfasst siebzehn oder achtzehn Seiten (sie sind nicht nummeriert). Das Papier ist vom Regen verbeult und ölig. Dasguptas wollte wohl, dass ich das lese. Und ich sollte ihm diesen letzten Wunsch erfüllen. Also lehne ich mich zurück.
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23.â29. April 1979; Sikkim, Nordregion
Dr. S.R. Dasgupta
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Kurz nach Sonnenaufgang versammelt sich die kleine Expedition bei einem Pipalbaum unterhalb von Mangan. Es ist bestimmt der einzige Pipalbaum in der gesamten Gegend. Die Träger kommen aus der Nähe von Gangtok.
Es wird geschimpft, gefeilscht um die Lasten und den Tageslohn. Wir brauchen zwei Stunden, bis alle zufrieden sind.
Wir gehen oberhalb des Flusses, der Tista, auf einem Pfad, der sich hinauf- und hinunterwindet. Unter dem klaren Himmel stehen die Gipfel des KanchanjanghÄ, der heute fahl sichtbar wird. Sikkim ist noch so, wie es immer war. Ganz anders als Nepal oder der Rest Indiens. Es ist ein Paradies geblieben. Nichts ist abgeholzt, keine Herden haben die Grasnarbe abgeweidet, keine Städte haben sich ins Umland gefressen.
Der Trägerpfad entlang der Tista ist auch eine Handelsroute, denn die SchotterstraÃe ist unzuverlässig und brüchig, nach dem Monsun ist sie so gut wie unpassierbar und kaum jemand hier besitzt ein Fahrzeug. Der Pfad führt auch ganz hinauf nach Lachung.
Die Tista wird zusehends schmäler und der Pfad läuft jetzt oft am Ufer entlang. Bei Sonnenuntergang erreicht unsere Expedition mit den Vermessungsinstrumenten und den Gesteinsbohrern eine kleine Ansammlung von Häusern, die wohl ein Dorf vorstellen soll.
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Hier hätten wir also Sikkim. Ich blättere durch den Bericht. Später werde ich ihn vollständig lesen. Ich überfliege ein paar Seiten bloÃ. Sie beschreiben eine lange Wanderung, stets alles mit gewissenhaften Kartierungsangaben. Dann gibt es so etwas wie eine Ankunft.
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Es ist der vierte Tag, früher Nachmittag. Wir gehen einen Hügelkamm über einem kleinen, sehr engen Tal entlang. Ich fahre mit meinen Fotografien und Zeichnungen fort, weshalb die Träger murren. Sie möchten zügig ausschreiten und dafür am Abend länger ruhen. Doch die Karte ist das Wichtigste. Nach einer Weile, noch auf dem Kamm, wird mir seltsam zumute. Ich vergleiche alle Karten, die ich mit mir trage, und dann noch einmal. Doch nirgends sind dieser Kamm und dieses Tal da unten zu sehen. Auch einen kleinen, fast vollkommen
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