Der dritte Zustand
hätten sie die Pflicht, behutsam zu prüfen, ob er auch kein Fieber habe, ob ihm kalt sei, ob er unter Schüttelfrost litte oder womöglich ebenfalls im Schild führe, sich ohne Vorwarnung davonzumachen. Schula drückte ihm eine Tasse Tee mit Zitrone und Honig in die Hand. Und Teddy führte ihn schonend zur einen Ecke des brokatbezogenen, mit Stickkissen übersäten Sofas, auf dem er Platz nahm. Anscheinend warteten alle angespannt, daß er etwas sagen möge. Fima tat ihnen den Gefallen: »Ihr seid alle wunderbar. Tut mir leid, euch so den Schabbatabend zu verderben.«
Der tiefe, breite, mit rötlichem Leder bezogene Sessel seines Vaters stand ihm genau gegenüber, ein ebenfalls rötliches Lederkissen an der Lehne befestigt, als bestehe das Ganze aus frischem Fleisch. Nur der Fußschemel schien ein wenig zur Seite gerückt. Und, einem Szepter gleich, lehnte rechts der Stock mit dem Silberknauf.
Schula sagte: »Eins ist jedenfalls völlig sicher: er hat überhaupt nicht gelitten. In einer Minute war alles vorüber. Früher hat man das einen sanften Tod, einen Tod durch Kuß, genannt und gesagt, der sei nur Gerechten vergönnt.«
Fima lächelte: »Gerechte hin, Gerechte her, Küsse sind immer ein wichtiger Bestandteil seines Repertoires gewesen.« Und während er das sagte, bemerkte er etwas, das seinen Augen bisher entgangen war: Schula, mit der er vor über dreißig Jahren, vor Anbruch des Geißbockjahrs, gegangenwar, als sie noch eine feine, mädchenhafte Schönheit besessen hatte, war sehr gealtert und ergraut. Auch ihre Schenkel waren dick geworden. Sie glich jetzt fast einer frommen Sephardin, die Abbau und Verschleiß völlig ergeben hinnimmt.
Ein stickiger, kondensierter Geruch, der Muff schwerer Teppiche und teurer alter Möbel, die viele Jahre dieselbe Luft geatmet haben, hing im Zimmer, und Fima erinnerte sich daran, daß dieser Geruch schon immer hier geherrscht hatte, also unter keinen Umständen Frau Professor Kropotkins Altersduft war. Dabei witterte er aber auch leichten Zigarettendunst. Er sah sich um, entdeckte eine kaum angefangene Zigarette, die man am Aschenbecherrand ausgedrückt hatte, und fragte, wer denn hier rauche. Er erfuhr, daß eine Freundin seines Vaters, eine der beiden ältlichen Spendensammlerinnen, in deren Gegenwart das Unglück geschehen war, ihre Zigarette gleich nach dem Anzünden ausgedrückt haben mußte. Hatte sie das getan, sobald sie merkte, daß Baruch pfeifend atmete? Oder schon nach dem Ganzen? Oder genau in dem Augenblick, in dem er aufseufzte und verschied? Fima bat, den Aschenbecher wegzuräumen. Und freute sich daran, Teddy losstürzen und seinen Willen erfüllen zu sehen. Zwi fragte, mit den langen Fingern die Heizungsröhren betastend, ob er wolle, daß man ihn dorthin fahre. Fima begriff die Frage nicht. Worauf Zwi, nur mühsam seine Verlegenheit überwindend, erklärte: »Dorthin. Zur Hadassa. Um ihn zu sehen? Vielleicht –«
»Was gibt’s da schon zu sehen«, fiel Fima ihm achselzuckend ins Wort. »Sicher elegant wie immer. Was soll man ihn stören.« Danach beauftragte er Schula, Uri einen starken schwarzen Kaffee zu bringen, weil er seit Verlassen des Flugzeugs heute morgen unaufhörlich herumgerannt sei. Eigentlich wär’s besser, du würdest ihm auch was zu essen geben. Gewiß geht er vor Hunger ein. Nach meiner Rechnung müßte er das Hotel in Rom gegen drei Uhr morgens verlassen haben, er hat also wirklich einen langen, schweren Tag hinter sich. Andererseits siehst du mir auch reichlich müde, sogar erschöpft aus, Schula. Und wo sind Jael und Dimmi? Jael muß man holen. Auch Dimmi würde ich gern hier sehen.
»Sie sind zu Hause«, sagte Ted entschuldigend, »der Junge hat es ein bißchen schwer aufgenommen. Man kann schon sagen, er hat ein besonderes Attachment zu deinem Vater gehabt.« Danach erzählte er weiter, Dimmi habe sich im Wäschezimmer eingeschlossen, so daß sie sich telefonisch mit ihrem Freund, dem Kinderpsychologen aus Südafrika, beraten mußten,der gemeint hatte, sie sollten ihn einfach in Ruhe lassen. Und tatsächlich sei er nach einiger Zeit herausgekommen und sofort an seinen Computer gegangen. Dieser Freund aus Südafrika hat nun gerade geraten –
»Quatsch«, sagte Fima. Und dann mit ruhigem Nachdruck: »Ich will beide hierhaben.«
Sagte es und wunderte sich im gleichen Moment selbst über den neuen autoritären Charakterzug, den das Unglück ihm verliehen hatte. Als habe der Tod seines Vaters ihm Beförderung, eine
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