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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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mehr junger Polizist, die Uniformmütze in komischem Winkel auf den Hinterkopf geschoben, unsanft zur Seite.
    »Gut, in Ordnung, schubsen Sie doch nicht, ich hab’ mich ja schon zerstreut.«
    Worauf der Wachmann ihn in rollendem rumänischen Tonfall anbrüllte: »Werden Sie mir mal lieber nicht schlau, sonst kriegen Sie noch einen drauf.«
    Fima steckte zurück. Ging in Richtung Bikur-Cholim-Krankenhaus davon. Wobei er sich fragte, ob er sich denn weiter zerstreuen werde, bis er eines Tages ebenfalls mitten auf der Straße umfiel. Oder er ging wie ein Hauskakerlak auf dem Küchenboden ein, und die Nachbarn von oben, das Ehepaar Pisanti, würden es erst eine Woche später, wenn der Gestank ins Treppenhaus drang, merken und die Polizei und seinen Vater alarmieren. Dem Vater würde sicher irgendeine chassidische Legende über einen sanften Tod einfallen. Oder er würde wieder, wie gewöhnlich, sagen, derMensch ist ein Paradox, lacht, wenn er weinen sollte, weint, wenn er lachen müßte, lebt ohne Verstand und stirbt ohne Lust – des Menschen Tage sind wie Gras. Bestand noch Aussicht, mit der Zerstreuung aufzuhören? Sich endlich auf die Hauptsache zu konzentrieren? Und wenn ja, wie anfangen? Und was, in Gottes Namen, war diese Hauptsache?
    Als er bei dem Geschäft Ma’ajan-Stub Ecke Jaffa-Straße angekommen war, bog er unwillkürlich rechts ab und schleppte sich Richtung Davidka-Platz weiter. Und weil ihm plötzlich die Füße weh taten, kletterte er geistesabwesend in den letzten Bus nach Kiriat Jovel. Vergaß aber nicht, dem Fahrer Schabbat Schalom zu wünschen.
    Viertel vor vier, kurz vor Schabbatbeginn, erreichte er die Haltestelle nahe seinem Haus. Dachte auch daran, sich von dem Fahrer mit den Worten »danke und auf Wiedersehen« zu verabschieden. Frühe Abenddämmerung begann schon die leichten Wolken über den Bethlehemer Bergen gold zu färben. Und Fima begriff plötzlich in aller Schärfe mit dumpfem Schmerz, daß nun auch dieser Tag unwiederbringlich vorüber war. Keine Menschenseele war in seiner Straße zu sehen, außer einem dunklen, etwa zehnjährigen Jungen, der eine Maschinenpistole aus Holz auf ihn richtete und ihn dadurch veranlaßte, sofort in einer Geste völliger Ergebung die Hände hochzuheben.
    Der Gedanke an sein Zimmer erfüllte ihn mit Widerwillen: die ganze öde Zeit, die auf ihn lauerte, von jetzt an bis zur Nacht und eigentlich – bis Schabbatausgang, an dem sich die Gruppe vielleicht bei Schula und Zwi versammeln würde. Alles, was er heute hätte tun müssen, aber nicht getan hatte, und für das es nun schon zu spät war. Einkäufe. Postamt. Das Telefon. Bargeld von der Bank. Annette. Und noch irgendeine dringende Angelegenheit, die ihm partout nicht einfallen wollte. Außerdem mußte er ja noch Vorbereitungen für die Tüncherei treffen. Möbel rücken und abdecken. Die Bücher im Bettkasten bergen. Das Bettzeug in die Schränke stopfen. Die Bilder von der Wand nehmen, auch die Landkarte, auf der die Kompromißgrenzen mit Bleistift eingezeichnet waren. Herrn Pisanti bitten, ihm die Regale abzubauen. Aber zuallererst mußte er Zwi Kropotkin anrufen. Ihm behutsam – diesmal ohne beleidigend zu werden oder in Sticheleien zu verfallen – auseinandersetzen, wie weitgehend sein in der neuen Ausgabe von Politika abgedruckter Aufsatz auf einer irrigen, simplifizierenden Annahme beruhte.
    Vorausgesetzt, das Telefon hatte sich inzwischen tatsächlich erholt.
    Genau vor dem Hauseingang, in einem weißen Wagen mit geschlossenen Scheiben, sah Fima einen stämmigen Mann völlig zusammengesunken, die Arme auf das Steuerrad gelegt, den Kopf zwischen den Armen vergraben, als schlafe er. Vielleicht ein Herzinfarkt? Oder ein Mord? Ein Sprengstoffanschlag? Selbstmord? Fima sammelte allen Mut und pochte leicht an die Scheibe. Sofort richtete sich Uri Gefen auf, kurbelte das Fenster herunter und sagte: »Da bist du ja. Endlich.«
    Fima versuchte in seiner Verblüffung einen dummen Witz zu formulieren, aber Uri schnitt ihm das Wort ab, indem er ruhig sagte: »Komm, wir gehen zu dir rauf. Wir müssen miteinander reden.«
    Nina hat ihm alles verraten. Daß ich Ehebruch mit ihr getrieben – vielmehr nicht getrieben – habe. Daß ich sie beleidigt und gedemütigt habe. Aber was macht er denn überhaupt hier? Er müßte doch jetzt in Rom sein? Oder hat er insgeheim einen Doppelgänger?
    »Schau, Uri«, sagte er, wobei ihm das Blut aus dem Gesicht wich und erschrocken in die Leber flüchtete, »ich weiß

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