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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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zu sein, und sei erneut zum bösen Traum geworden.
    Der Regen hatte nicht wieder eingesetzt. Die Luft war feucht, gesättigt, Fima witterte den bitteren Geruch im Staub verfaulender Blätter. Ihm fiel ein, daß er als Kind einmal zu ähnlicher Stunde, bei Schabbatbeginn, hier allein auf seinem Fahrrad die ausgestorbene Straße auf und ab gefahren war. Als er am Haus vorbeikam, hatte er den Kopf gehoben und Vater und Mutter auf dem Balkon gesehen. Streng und aufrecht standen sie da, gleich groß, beide dunkel gekleidet, sehr nahe beieinander, aber ohne sich zu berühren. Wie zwei Wachsfiguren. Und es schien ihm, sie trauerten beide einem Gast nach, den sie immer noch erwarteten, obwohl sie längst nicht mehr mit seinem Kommen rechneten. Zum ersten Mal im Leben ahnte er damals verschwommen die tiefe Schmach jenes Schweigens, das seine ganze Kindheit über zwischen ihnen herrschte. Ohne jeden Streit.Ohne Klage. Ohne Auseinandersetzung. Höflich zuvorkommende Stille. Er war daraufhin vom Fahrrad abgestiegen und hatte schüchtern gefragt, ob es für ihn schon Zeit sei hinaufzukommen.
    »Wie du möchtest«, sagte Baruch.
    Und seine Mutter sagte gar nichts.
    Diese Erinnerung weckte bei Fima den dringenden, beklemmenden Wunsch, etwas zu klären, Uri zu fragen, nachzuforschen, denn er meinte, er habe vergessen, die Hauptsache zu prüfen. Aber was die Hauptsache war, wußte er nicht. Obwohl er spürte, daß sein Unwissen in diesem Augenblick dünner als sonst war, so ähnlich wie eine zarte Spitzengardine, die schemenhafte Bewegungen erkennen läßt. Oder ähnlich einem verschlissenen Kleidungsstück, das den Körper noch umhüllt, aber nicht mehr wärmt. Und er spürte in den Knochen, wie sehr er sich danach sehnte, weiterhin unwissend zu bleiben.
    Als sie die Treppen zum dritten Stock hinaufgingen, legte Fima plötzlich Uri die Hand auf die Schulter, denn der andere erschien ihm müde und traurig. Fima verspürte das Bedürfnis, durch diese Berührung seinen großen Freund aufzumuntern, der vor langer Zeit ein vielgerühmter Kampfflieger gewesen war und immer noch mit leicht vorgeschobenem Kopf, wie in Flugrichtung, durch die Gegend lief, eine Fliegeruhr mit allen Schikanen am Handgelenk, während seine Augen gelegentlich noch den Eindruck eines Menschen erweckten, der alles von oben sieht.
    Und doch ein warmherziger, ehrlicher und treuer Freund.
    An der Tür war ein Kupferschild angebracht, auf dem, schwarz auf grau, zwei Worte eingraviert standen: Familie Numberg . Auf ein viereckiges Pappstück darunter hatte Baruch mit seiner energischen Handschrift notiert: Bitte zwischen ein Uhr mittags und fünf Uhr nachmittags nicht zu klingeln. Unwillkürlich blickte Fima auf die Uhr. Aber man brauchte sowieso nicht zu klingeln, denn die Tür stand einen Spalt offen.
    Zwi Kropotkin hielt die beiden ein paar Minuten im Flur auf, wie ein eifriger Stabsoffizier, dessen Auftrag lautet, die Eintreffenden vor Betreten des Lagezimmers über die neuesten Entwicklungen zu informieren: Trotz Ambulanzfahrerstreik und Schabbatbeginn habe die unermüdliche Nina per Telefon, von ihrem Büro aus, dafür sorgen können, daß ... daß er in den Leichenkeller des Hadassa-Hospitals überführt wurde. Fima freute sich aufs neue über die schüchterne Verlegenheit Zwis, der ihm überhaupt nicht wie ein berühmter Geschichtswissenschaftler und Dekan vorkam,sondern eher wie ein ewiger Jugendführer mit bereits leicht gebeugten Schultern oder wie ein Dorfschullehrer. Und er mochte auch das Blinzeln seiner Augen, das wie ein jäher Lichtstrahl hinter den dicken Brillengläsern aufleuchtete, und seine feste Angewohnheit, geistesabwesend alles zu befingern, was ihm in die Quere kam, Geschirr, Möbel, Bücher, Menschen, als kämpfe er sein Leben lang mit einem geheimen Zweifel an der Wirklichkeit aller Dinge. Ohne den Jerusalemer Irrsinn, ohne Hitler, ohne den jüdischen Verantwortungswahn wäre dieser bescheidene Gelehrte in Cambridge oder Oxford gelandet, wo er in Ruhe hätte leben können, bis er hundert Jahre war, und seine Zeit zwischen Golf und Kreuzzügen oder zwischen Tennis und Tennyson aufgeteilt hätte.
    »Sehr gut, daß ihr ihn habt überführen lassen«, sagte Fima. »Was hätte er hier auch den ganzen Schabbat über machen sollen?«
    Im Zimmer umringten ihn die Freunde, streckten ihm von allen Seiten die Hände entgegen und strichen ihm sanft über Schulter, Wange und Haar, als habe Fima beim Tod seines Vaters die Rolle des Kranken geerbt. Als

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