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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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vor zwei war, weil ihn die Angst vor dem im Dunkeln mit dem Stock tastenden Blinden befallen hatte, und außerdem – warum nicht eine Aufgabe für morgen übriglassen?

12.
Der feste Abstand zwischen ihm und ihr
    Im Traum sah er seine Mutter. Der Ort war ein grauer, verlassener Garten, der sich über mehrere flache Hügel erstreckte. Es gab dort verdurstete Rasenflächen, die zu Dornenfeldern geworden waren, ein paar dürre Bäume und Reste von Beeten. Am Fuß des Abhangs stand eine kaputte Bank. Neben dieser Bank sah er seine Mutter. Der Tod hatte sie in eine religiöse Internatsschülerin verwandelt. Von hinten erschien sie ihm sehr jung, ein frommes Mädchen im züchtigen Kleid, das ihre Arme bedeckte und bis zu den Knöcheln hinab reichte. Sie schritt ein rostiges Rohr ab. In festen Intervallen hockte sie sich nieder und drehte Bewässerungshähne auf. Die Sprinkler drehten sich nicht, sondern gaben nur einen dünnen Strahl braunen Wassers ab. Fimas Aufgabe bestand darin, hinter ihr hinunterzugehen und jeden von ihr geöffneten Hahn zuzudrehen. So sah er nur ihren Rücken. Der Tod hatte sie leicht und hübsch gemacht. Hatte ihren Bewegungen Anmut, aber auch ein gewisses Maß kindlicher Unbeholfenheit verliehen. Diese Kombination von Elastizität und Tolpatschigkeit sieht man bei Katzenjungen kurz nach der Geburt. Er rief sie mit ihrem russischen Namen Lisaweta, ihrem Kosenamen Lisa und ihrem hebräischen Namen Elischewa. Vergebens. Seine Mutter wandte sich nicht um und reagierte nicht. Deshalb begann er zu rennen. Alle sieben, acht Schritte mußte er stoppen, auf alle viere niedergehen und die Hähne zudrehen, die sie geöffnet hatte. Diese Hähne waren aus weichem, feuchtschleimigem Material, als fasse man eine Qualle an. Und was aus ihnen troff, war nicht Wasser, sondern eine sämige Flüssigkeit, die ihm wie gelierter Fischsud an den Fingern klebte. Trotz seines Rennens, dem Lauf eines dicken, kurzatmigen Jungen, und trotz seiner Rufe, die in der grauen Weite ein trauriges Echo, zuweilen vermischt mit einem scharfen, hohen, an das Reißen einer gespannten Saite erinnernden Laut, weckten, ließ sich der Abstand zwischen ihm und ihr partout nicht verringern. Verzweifelte Angst, das Rohr könne niemals enden, erfüllte ihn. Aber an der Waldgrenze blieb sie stehen. Wandte sich ihm zu. Und da war ihr schönes Antlitz das eines getöteten Engels: Die Stirn glänzte im weißen Mondschein. Auf ihren eingefallenen Wangen lag Knochenblässe. Die Zähne blitzten ohne Lippen. Der blonde Zopf war aus trockenem Stroh geflochten. Die Augen verdeckteeine schwarze Sonnenbrille, wie die eines Blinden. Auf ihrem ulraorthodoxen Schulkleid sah er getrocknete Blutflecke überall dort, wo man sie mit Draht durchbohrt hatte: an Oberschenkeln. Hüften. An der Kehle. Als hätten sie eine Igelmumie aus ihr gemacht. Sie antwortete Fima mit traurigem Kopfschütteln. Sagte: Schau, was sie dir angetan haben, du Golem. Und nahm mit dürren Fingern die Sonnenbrille ab. Vor lauter Grauen wandte Fima den Kopf. Und erwachte.

13.
Die Wurzel allen Übels
    Nach der Aufzeichnung im Traumbuch stand er auf, trat ans Fenster und sah in einen glasklaren Morgen. Auf einem kahlen Ast duckte sich ein Kater, der hinaufgeklettert war, um aus der Nähe zu hören, was die Vögel erzählten. »Daß du mir nicht runterfällst, mein Lieber«, sagte Fima liebevoll. Sogar die Berge von Bethlehem schienen ihm zum Greifen nahe. Die Gebäude und Höfe ringsum waren von kaltem, transparentem Licht überflutet. Balkons, Zäune, Autos – alles blinkte von der nächtlichen Regenwäsche. Obwohl er keine fünf Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich wach und energiegeladen. Bei der Gymnastik vor dem Spiegel diskutierte er im stillen mit der arroganten Sprecherin der Siebenuhrnachrichten, die bedenkenlos zu erzählen wußte, was Syrien im Schild führte, und angeblich sogar einen einfachen Weg gefunden hatte, den bösen Plan zu hintertreiben. Nicht verärgert, sondern leicht abschätzig entgegnete ihr Fima: Sie sind einigermaßen dusselig, gute Frau. Worauf er es für richtig hielt hinzuzufügen: Aber sehen Sie nur, wie schön es draußen ist. Als singe der Himmel. Möchten Sie ein bißchen mit mir spazierengehen? Wir schlendern durch die Straßen, durchstreifen Wäldchen und Wadi, und unterwegs erkläre ich Ihnen, welche Politik gegenüber Syrien tatsächlich angebracht ist, wo die Schwachstelle der Syrer und unsere eigene Blindheit liegen.
    Das führte ihn dazu, über

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