Der dritte Zustand
das Leben der Rundfunksprecherin nachzugrübeln, die an diesen gräulichen Wintertagen um halb sechs aus dem warmen Bett springen mußte, um pünktlich zu den Siebenuhrnachrichten im Studio zu sein. Und wenn nun einmal ihr Wecker kaputtging? Oder der Wecker sie zwar genau um halb sechs weckte, sie sich aber verleiten ließ, nur noch zwei süße Minuten liegenzubleiben, wieder einschlief und nichtmehr rechtzeitig zur Stelle war? Und was, wenn wegen der Kälte ihr Auto einfach nicht anspringen wollte, wie es hier fast jeden Morgen dem Nachbarn mit dem bellenden Vehikel passierte? Möglich wäre auch, daß diese junge Frau – Fima malte sich ihre Gestalt aus: mäßig groß, sommersprossig, helle, lachende Augen und blondgelocktes Haar – auf einem Klappbett im Radiosprecherraum des Studios übernachtete. Wie in dem besonderen Zimmer, in dem die Nachtdienstärzte im Krankenhaus ruhten. Und wie fand sich ihr Mann, der Versicherungsagent, damit ab? Stellte er sich in seinen einsamen Nächten nicht alle möglichen wilden Affären mit den Technikern vor, die die Nachtschicht im Sender versahen? Nicht zu beneiden, entschied Fima, keiner von uns ist zu beneiden. Vielleicht nur Joeser.
Durch Joesers Schuld schnitt Fima sich beim Rasieren. Vergeblich bemühte er sich, den Blutstrom mit Toilettenpapier, Watte und schließlich einem feuchten Taschentuch zu stoppen. Deshalb vergaß er das faltige Hautstück unter dem Kinn zu rasieren. Das er sowieso nicht gern abschabte, weil es ihn an den Kropf eines fetten Hahns erinnerte. Er preßte das Taschentuch an die Wange, als habe er Zahnschmerzen, und ging sich anziehen. Wobei er zu dem Schluß gelangte, das Positive an seiner Blamage von gestern abend sei immerhin, daß er Annette keinesfalls geschwängert haben konnte.
Als er den von Jael geerbten Zottelbärpullover suchte, erspähten seine Augen plötzlich ein winziges glitzerndes oder blinkendes Insekt auf dem Stuhlpolster. War es möglich, daß ein verwirrtes Glühwürmchen sich auszuschalten vergessen hatte, obwohl die Nacht vorüber war? Schließlich hatte er seit drei Jahren kein Glühwürmchen zu Gesicht bekommen und wußte eigentlich gar nicht, wie so ein Geschöpf aussah. Von freudiger Jagdlist erfüllt, beugte Fima sich vor, ließ seine rechte Hand in einer blitzartigen Bewegung vorschnellen, die wie eine Ohrfeige begann und mit geballter Faust endete, und hatte das Insekt unversehrt eingefangen. All das spielte sich mit einer Schnelligkeit und Genauigkeit ab, die in völligem Widerspruch zu seinem Ruf eines ungeschickten Burschen mit zwei linken Händen standen. Als er die Finger aufklappte, um zu prüfen, was er gefaßt hatte, überlegte er ein Weilchen, ob es ein Ohrring von Annette, eine Schnalle von Nina, ein Spielzeugteil von Dimmi oder vielleicht ein silberner Manschettenknopf seines Vaters war. Nach vorsichtiger Begutachtung entschied er sich für die letzte Möglichkeit. Obwohl Zweifel blieben. Dann ging er in die Küche, machte den Kühlschrank auf, aber nicht wieder zu,verharrte sinnierend, die offene Tür in der Hand, fasziniert von dem geheimnisvollen Licht, das hinter der Milch und dem Käse angegangen war, prüfte erneut in Gedanken den Ausdruck »Preis der Moral« im Titel des Artikels, den er heute nacht verfaßt hatte. Und fand keinen Grund, etwas zu korrigieren oder abzuändern. Die Moral hat ihren Preis – ebenso wie die Unmoral, und die eigentliche Frage ist doch, was der Preis des Preises ist, das heißt, worin der Sinn und Zweck des Lebens besteht. Von dieser Frage leitet sich alles andere ab. Oder sollte es jedenfalls. Einschließlich unseres Verhaltens in den Gebieten.
Fima machte den Kühlschrank zu und beschloß, heute morgen außer Haus, in Frau Scheinboims kleinem Lokal gegenüber, zu frühstücken, weil er die gründliche Ordnung, die er heute nacht in der Küche geschaffen hatte, nicht wieder zerstören wollte und das Brot trocken geworden war und die Margarine ihn plötzlich an die grauenhaft glibberigen Hähne im Traum erinnerten und vor allem, weil schon gestern der elektrische Wasserkessel ausgebrannt war und es ohne ihn keinen Kaffee gab.
Um Viertel nach acht verließ er das Haus, ohne das blutgetränkte Stückchen Watte zu spüren, das ihm auf der Schramme an der Wange klebte. Aber er dachte daran, den Müllbeutel mitzunehmen und den Umschlag mit dem nachts verfaßten Artikel in die Tasche zu stecken, und vergaß auch nicht den Briefkastenschlüssel. Im Geschäftszentrum drei
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