Der Dschungel
Szene eine Vorahnung des zukünftigen Schicksals. Sinclair stellte in ökonomisch und historisch fundierter Weise eine europäische Einwandererfamilie in den Vordergrund des Romans. Ihre Erfahrungen, ihre Desillusionierungen und die Tragik ihrer allmählichen Auslöschung sind charakteristisch für die Auswirkungen der fortgeschrittenen Kapitalentwicklung um 1900 auf die Menschenmassen. Die großen Kapitalien hatten zu dieser Zeit bereits weitgehend das Stadium der Monopolisierung und Vertrustung erreicht. Die ohnehin im Wesen des Kapitalismus angelegte Produktion einer Überschußbevölkerung, einer »industriellen Reservearmee«, vergrößerte sich künstlich durch die Einwandererströme aus Europa.
Der Kampf ums Dasein im überfüllten Chicago ist daher in erster Linie ein Kampf um Arbeitsplätze mit minimalen Löhnen. Zuerst gelingt das der Großfamilie um Jurgis Rudkus verhältnismäßig gut. Jurgis ist gesund und stark und kann sich gegenüber schon ausgelaugten Rivalen durchsetzen: »survival of the fittest«. Auch die anderen Familienmitglieder finden Arbeit; man erwirbt ein Haus auf Raten. Doch die grimmigen Chicagoer Winter, Massenentlassungen und persönliche Unglücksfälle verändern allmählich das Bild: keine Krankenversicherung; keine Arbeitslosenunterstützung; Verlust des Hauses bereits, als man eine Rate nicht mehr zahlen kann; Todesfälle in der Familie. Die persönliche Krise für Jurgis spitzt sich tragisch zu, als er herausfindet, daß seine zarte Frau Ona einem bulligen Vorarbeiter sexuell zu Willen ist – er erschlägt ihn fast. Klassenjustiz, Gefängnis, Betrug, Korruption, Wanderschaft, das sind weitere Stationen auf Jurgis’ pikarischer Reise zum Sozialismus. Vom Helden des pikaresken Romans unterscheidet ihn freilich, daß er zunehmend Einsicht gewinnt in die Ursachen und Zusammenhänge seines Schicksals, mehr und mehr die dafür verantwortliche gesellschaftliche Klasse erkennt.
Die Tatsache, daß es Gruppen gibt, die diese Verhältnisse nicht nur politisch analysieren, sondern auch ihren Erkenntnissen entsprechend für eine Veränderung der Verhältnisse kämpfen, eröffnet sich Jurgis indessen ähnlich plötzlich und unvermittelt wie Sinclair selbst wenige Jahre zuvor; es fällt ihm wie Schuppen von den Augen. Daß es die Sozialistische Partei ist, auf die Sinclair setzt, und nicht die Gewerkschaft, hat historisch seine Richtigkeit. Die erfolgreiche gewerkschaftliche Organisierung des Sektors der Fleischverarbeitung gelang erst über zehn Jahre später; 1904 waren gewerkschaftliche Ansätze in diesem Bereich zersplittert, kriminalisiert und von Spitzeln und Betrügern durchsetzt. Die Streikstrategie der Gewerkschaften hatte zudem keine Perspektive, da den Unternehmern massenhaft Streikbrecher zur Verfügung standen. Die Humanisierung des Industriesektors konnte grundlegend nur im überregionalen Maßstab angegangen werden; die Verwandlung der Idee der politischen Demokratie in die Wirklichkeit der industriellen Demokratie war einer der zentralen Programmpunkte der erstarkenden »Socialist Party« nach ihrer Vereinigung mit der früheren »Socialist Labour Party« und »Social Democratic Party«. Ihre Mitgliederzahlen und Wahlerfolge des Jahrzehnts zwischen 1902 und 1912 waren durchaus so beeindruckend, daß dem engagierten Zeitgenossen ihre Regierungsverantwortung als Möglichkeit am Horizont erscheinen konnte.
Die Geschichte der Veröffentlichung und Verbreitung des Romans wirft interessante Schlaglichter auf das Verlagswesen der Zeit und die politischen Wirkungschancen von Literatur. Das Werk erschien zunächst als Fortsetzungsroman in »Appeal to Reason«; vier Verlage lehnten die Buchpublikation ab. Die Details seien zu schrecklich; wenn der Autor »Blut und Eingeweide« herauslassen würde, wäre das Buch ein Erfolg. Just als Sinclair eine Veröffentlichung im Selbstverlag vorbereitete, begann sich der renommierte Verlag »Doubleday Page and Company« zu interessieren. Er ließ durch einen Reporter der Chicago Tribune einen Bericht über den Wahrheitsgehalt des Romans verfassen; er war vernichtend – geschrieben hatte ihn, wie sich später herausstellte, ein Sprecher des Büros des Fleisch-Trusts! Erst nach dieser Enthüllung, im April 1906, erschien der Roman bei Doubleday and Page.
Eins der ersten Exemplare sandte Sinclair an Präsident Roosevelt. Die realistisch geschilderten Einzelheiten der Zustände in den Schlachthöfen gingen durch die nationale Presse. Roosevelt lud
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