Der Dschungel
erwiesen, daß der Mensch kein Fleisch braucht. Und Fleisch ist doch unstreitig schwerer zu erzeugen als pflanzliche Nahrung, unangenehmer zu verarbeiten und auch leichter verderblich. Doch was macht’s – Hauptsache, es kitzelt den Gaumen!«
»Wie könnte der Sozialismus das denn ändern?« Die Zwischenfrage kam von der Studentin, die bisher noch gar nichts gesagt hatte.
»Solange wir die Lohnsklaverei haben«, erwiderte Schliemann, »spielt es überhaupt keine Rolle, wie erniedrigend oder abstoßend eine Arbeit ist – es läßt sich ja leicht jemand finden, der sie macht. Aber sobald die Arbeiter befreit sind, wird der Preis für solche Arbeiten steigen. Man wird die schmutzigen und ungesunden Fabriken eine nach der anderen abreißen – neue zu bauen wird billiger sein; man wird die Dampfschiffe mit automatischer Feuerung ausrüsten und überhaupt alle gefährlichen Berufe ungefährlich machen oder aber für ihre Erzeugnisse Ersatz finden. Proportional dazu, wie sich die Bürger unserer Industrie-Republik kultivieren, werden sich die Schlachthausprodukte von Jahr zu Jahr verteuern, bis schließlich, wer Fleisch essen will, selber schlachten muß – und wie lange, glauben Sie, wird sich der Brauch dann noch halten? Um noch auf einen anderen Punkt einzugehen: Zu den unabänderlichen Begleiterscheinungen des Kapitalismus in einer Demokratie gehört politische Korruption, und daß der Verwaltungsapparat der Gemeinden überall in den Händen ignoranter und skrupelloser Politiker liegt, hat wiederum zur Folge, daß die Hälfte der Bevölkerung durch vermeidbare Krankheiten dahingerafft wird. Aber selbst bei vollem Einsatz der Wissenschaft ließe sich wenig ausrichten, weil die meisten Menschen überhaupt keine Menschen sind, sondern lediglich Maschinen zur Erzeugung von Reichtum für andere. Sie sind in verdreckten, unhygienischen Häusern zusammengepfercht, und man läßt sie im Elend schmoren und verkommen; ihre Lebensbedingungen machen sie schneller wieder krank, als alle Ärzte der Welt sie heilen könnten; so bleiben sie natürlich Seuchenherde, bedrohen unser aller Leben und machen Glücklichsein selbst für den größten Egoisten unmöglich. Aus diesem Grunde wage ich zu behaupten, daß alle Entdeckungen, die die Medizin künftig noch machen kann, von geringerer Bedeutung sein werden als die praktische Nutzung des vorhandenen Wissens, wenn die Enterbten dieser Erde ihr Recht auf ein menschenwürdiges Dasein durchgesetzt haben.«
Hier verfiel Schliemann wieder in Schweigen. Jurgis war aufgefallen, daß das hübsche Mädchen am Mitteltisch mit dem gleichen entrückten Ausdruck gelauscht hatte wie er damals, als er zum ersten Mal vom Sozialismus hörte. Er hätte sich mit dieser Studentin gern unterhalten; bestimmt hätte sie ihn verstanden. Später dann, als die Gesellschaft aufbrach, hörte er Mrs. Fisher leise zu ihr sagen: »Ob Mr. Maynard wohl jetzt noch genauso über den Sozialismus schreiben wird?« Worauf sie erwiderte: »Wahrscheinlich nicht – aber wenn doch, dann wissen wir, daß er keinen Charakter hat.«
Nur wenige Stunden später brach der Wahltag an. Vorbei war die lange Kampagne, und das ganze Land schien stillzustehen und mit angehaltenem Atem auf den Ausgang der Wahl zu warten. Jurgis und das übrige Personal von Hinds’ Hotel hielt es kaum beim Abendbrot; unmittelbar danach eilten alle los zu dem großen Saal, den die Partei für diesen Abend gemietet hatte.
Dort warteten schon mehr Leute, und der Telegraph auf dem Podium tickte bereits die ersten Resultate herunter. Wie sich später, nach dem Aufrechnen des Endergebnisses, herausstellte, hatten die Sozialisten über vierhunderttausend Stimmen erhalten – was einen Zuwachs von rund dreihundertfünfzig Prozent innerhalb von vier Jahren bedeutete. Das war zwar ein enormer Gewinn, aber da die Partei zuerst ja nur die Ergebnisse ihrer einzelnen Ortsgruppen bekam und die erfolgreichsten davon natürlich sehr eifrig mit ihren Meldungen waren, nahm jeder im Saal an, es würden noch sechs-, sieben- oder gar achthunderttausend erreicht. In Chicago und im Bundesstaat Illinois wurde solch ein unglaublicher Zuwachs dann tatsächlich erreicht: In Chicago hatten die Sozialisten bei der letzten Präsidentschaftswahl 6700 Stimmen bekommen, jetzt aber 47000, und in Illinois 69000 gegenüber den 9700 im Jahre 1900! Je später es wurde und je mehr Leute hereinströmten, um so höher stieg die Stimmung im Saal: Berichte wurden verlesen, und die Leute
Weitere Kostenlose Bücher