Der Duft der grünen Papaya
Blick und entdeckte erst jetzt Ane, die ein Stück entfernt auf dem Boden kauerte. Das Gesicht in den Händen vergraben und zusammengerollt wie ein Embryo, wimmerte sie leise vor sich hin.
»Ane wollte auf mich schießen«, sagte Ili mit schwacher Stimme. »Aber sie schaffte es nicht. Sie zitterte, weinte, redete unzusammenhängendes Zeug. Sie ließ die Waffe fallen, und dabei löste sich ein Schuss.«
»Sind Sie verletzt?«
Ili griff nach Evelyns Händen. »Nicht auf die Weise, die Sie befürchten, meine Liebe. Ich bin nur – müde. Mein Herz … Es war mir sehr lange ein treuer Diener, aber jetzt muckt es auf. Lassen Sie mich einen Augenblick hier sitzen. Und bleiben Sie bei mir, ja?«
»Natürlich bleibe ich bei Ihnen. So lange Sie wollen.« Ili blinzelte vertrauensvoll. »Das ist länger, als Sie vielleicht denken.«
»Dann sage ich danke.«
Sie sahen einander an und lächelten.
Ein Schleier aus Wolken zog vor die Sonne, und durch die Blätter der Papayabäume fielen nur noch einzelne Flecken trüber Helligkeit. Die Stille schien auf den Mittagsregen zu warten, der jeden Moment niederprasseln konnte. Drüben lag noch immer Ane und schluchzte wie ein kleines Kind, das darauf wartet, dass die Mutter kommt und es tröstet.
»Wie konnte sie nur etwas so Abscheuliches tun wollen?«, fragte Evelyn. »Sie hätte Sie beinahe umgebracht, Ili.«
»Moana steckt in ihr, vergessen Sie das nicht. In Samoa nennen wir es den Geist der Ahnen, woanders heißen sie Gene und Erinnerungszellen, aber es ist das Gleiche. Moana, Ivana, Tupu, Tino, Atonio und alles, was diese Menschen ausgemacht hat, fließt in Anes Adern und lässt sie nicht los. Sie hat einen fünffachen Abwehrkampf zu führen, und sie hatte von Anfang an schlechte Karten, ihn zu gewinnen. Und ich selbst – ich habe das Meine dazu beigetragen, dass sie diesen Kampf heute endgültig verloren hat.«
Samoa, Sonntag, 19. Juni 1995
Die Vorbereitungen für die Papayaernte waren in vollem Gang, aber die Familie hatte sich angewöhnt, sonntags nicht mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu früher brauchte Ili mit ihren nunmehr achtzig Jahren einen Tag in der Woche, an dem sie sich weder mit Geschäften noch mit Papayas abgab, sondern zu alten Büchern griff, spazieren ging oder backte, alles Dinge, die ihr Ruhe gaben.
Atonio hatte sich nach Taiatas Tod lange nicht um den Sonntag geschert und wie an allen anderen Tagen verbissen gearbeitet – allenfalls, dass er mal etwas früher nach Hause kam. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, weitere Flächen zu erschließen, und mit Ili, die sich weigerte, Geld dafür herzugeben, etliche Kämpfe ausgefochten. Allerdings hatte auch seine Kraft Grenzen. Mehr erschlossenes Land bedeutete mehr Arbeit. Seit zwei Jahren spürte er allmählich, dass sein Körper nicht mehr seinem Willen folgen konnte, und so hatte er unlängst mit Ane einen Abstecher nach Sydney gemacht. Er schützte Geschäftskontakte vor, die er ausbauen wolle, aber jeder wusste, dass er eine Auszeit gebraucht hatte, einen Urlaub, etwas, das ihn für eine Weile aus dem Gewohnten herausriss. Die Tage hatten ihm gut getan, das war deutlich zu sehen. Seither ging er an
jedem siebten Wochentag mit Mutter und Tochter in die Kirche, blieb den Nachmittag in Palauli und schwatzte mit den Dörflern.
Ili glaubte schon, er hätte sich endlich wieder gefangen; Senji hätte gesagt: seine Mitte gefunden.
An jenem Junisonntag hingegen kam er, entgegen seiner neuen Gewohnheit, mit Moana und Ane nach dem Gottesdienst zurück. Ili, die auf ihrer Veranda saß, sah sie kommen. Sie ging nie in die Kirche, nicht sosehr aus Überzeugung denn aus Gewohnheit – als Mädchen und junge Frau hatte sie versäumt, damit anzufangen –, und betete lieber auf der Veranda, mit Blick auf die Palauli Bay.
Normalerweise ging Atonio mit einem stummen Kopfnicken an ihr vorbei, und allenfalls Ane kam gelegentlich zu ihr, auf der Suche nach einem süßen Scone oder einem Mangokuchen. Heute ging Ane jedoch in den Garten spielen, stattdessen kam Atonio zu ihr.
»Können wir nachher reden?«, fragte er. »Es ist wichtig.«
Ili runzelte neugierig die Stirn. »Sicher. Meinetwegen auch gleich.«
»Ich habe meiner Mutter versprochen, einige Reparaturen zu erledigen. Passt es dir, wenn sie ihren Mittagsschlaf hält? Und nicht hier, wenn es geht. In der Plantage. An der südöstlichen Wasserleitung, bitte. Dort sind wir ungestört.«
»Das hört sich ja spannend an.«
»Ich muss dir etwas
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