Der Duft der grünen Papaya
Herbstlaub vermissen,
den Duft der hessischen Streuobstwiesen im August, die kalten Abende auf den Frankfurter Weihnachtsmärkten, die Osterglocken in den Vorgärten.
Vielleicht würde sie Carsten verlieren.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wie er auf ihre Ankündigung reagieren würde. Er war noch nie der aufbrausende Typ gewesen, daher schied diese Variante aus. Ansonsten jedoch hatte sie alles für möglich gehalten: dass ein vorwurfsvoller, ja, liebloser Blick sie traf; dass er sich stumm abwandte und ging; dass er sie für verrückt erklärte. Sie hatte Angst gehabt vor seiner Reaktion, schreckliche Angst, und doch waren ihr die Worte wie von selbst über die Lippen gekommen.
»Hast du schon einmal das Gefühl gehabt, etwas unbedingt tun zu müssen? Und kennst du diese bösartigen kleinen Zweifel im Kopf? So geht es mir zurzeit. Ich spüre, dass ich richtig handle, ich weiß nur nicht, ob ich das alles durchstehe – ohne dich. Ich brauche dich. Bitte, Carsten, bleib bei mir. Bei mir und Ili, auf dem Papayaland.«
Evelyn verlangte sehr viel von ihm, das wusste sie. Während sie ihre Frankfurter Unternehmensberatung verkaufen oder als stille Teilhaberin von Bianca weiterführen könnte, würde er seinen Job aufgeben müssen, denn auf Samoa boten sich ihm keine seiner Qualifikation angemessenen Möglichkeiten. Außerdem war er in den letzten Jahren mehr mit der Bank als mit ihr verheiratet gewesen.
Er war sich mit beiden Händen durch die Haare gefahren, hatte die Lippen gespitzt und langsam ausgeatmet.
»Wovon willst du hier leben?«, wollte er schließlich wissen.
Seine Frage versetzte ihr einen Stich. Wovon willst du hier leben? Er sagte du, nicht wir.
»Ich habe Einnahmen aus der Firma«, erklärte sie. »Sie ist schuldenfrei.«
»Das Haus ist nicht schuldenfrei.«
»Aber fast. Wenn wir es verkaufen, bleibt noch ein schöner Teil übrig.«
»Du willst es verkaufen, ja? Unser Haus? Das wir mal geliebt haben!« Er schüttelte den Kopf, als würde er versuchen, aus einem Albtraum aufzuwachen. »Und womit willst du dich hier beschäftigen?«
»Nun ja, Ili kann jede Hilfe gebrauchen. Sie wird ja nicht jünger, und es gibt so viel Papierkram zu erledigen. Sicher werde ich genug zu tun haben.«
»Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?«
»Ob ich hier bleiben kann? Nein, noch nicht. Aber ich weiß , dass sie nichts dagegen haben wird.«
»Du vergisst Kettner«, hielt er ihr entgegen. »Ili wird schon bald kein Land mehr haben. In genau …«
Er hatte auf die Armbanduhr gesehen. »In genau einer Stunde und fünfunddreißig Minuten.«
»Dann wird sie mich sogar noch nötiger brauchen. Ich hoffe allerdings noch immer auf Rettung.«
»Nur ein Wunder könnte euch noch retten.«
»Ein Wunder hat mich schon einmal gerettet, als ich beschloss, hierher zu fliegen. Wieso nicht auf ein zweites hoffen?«
Sie hatten sich gegenübergestanden, und sich nicht aus den Augen gelassen. Evelyn hatte daran gedacht, wie sie sich in der Mensa der Universität zum ersten Mal begegnet und ins Gespräch gekommen waren, weil er an dem kleinen Tisch versehentlich ihr Mineralwasser getrunken hatte; wie sie ihn eine Woche später in ihre Einzimmerwohnung zum Essen eingeladen hatte und ausgerechnet Tunfisch mit Bohnen kochte, was er immer schon abscheulich fand, an diesem Abend aber verschwieg und erst einige Wochen später zugab, als sie bereits zusammen waren; wie sie ihre erste Rucksacktour gemacht hatten, durch Devon in England, wo es eine Woche lang nur geregnet hatte; wie
sie beide zum ersten Mal Julias Körper auf einem Computerbildschirm des Gynäkologen gesehen hatten und glücklich waren wie nie zuvor. Das alles zog an Evelyn vorbei, und sie konnte nur hoffen, dass auch Carsten diese Dinge nicht vergessen hatte.
Schweigend sah sie zu, wie er sein Handy aus der Tasche zog, den Empfang abwartete und eine lange Nummer wählte.
»Hallo, Neil, hier ist Carsten Braams. Na, wie ist das Wetter in Philadelphia? Tja, da habe ich es in Samoa besser. Weshalb ich anrufe: Es gibt nun doch ein Problem mit unserem Kunden. Ich habe herausgefunden, dass er die Einheimischen zum Teil unter erheblichen Druck gesetzt hat, um an ihr Land zu kommen. Nein, Neil, schlimmer. Es gab sogar einen Brand. Was ich damit sagen will? Dass er früher oder später Ärger mit dem Gesetz bekommt, und was dann mit unserem Kredit passiert, können Sie sich denken. Ja, ich halte es wirklich für riskant. Natürlich weiß ich, dass wir
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