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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Zehnjährigen auf dieselbe Frage erklärt? Weil er erwachsen ist und du ein Kind? Diesen Satz hätte man sich schon kaum bei einem echten Kind erlauben dürfen, bei Will wäre er schlichtweg empörend. James hätte nachgeben sollen, dachte sie, er sollte der Klügere und der Verständnisvollere sein. Schließlich war es doch nur einmal pro Woche – nun ja, in dieser Woche zweimal. Bei derartigen Gedankengängen fröstelte es sie. Warum, wusste sie nicht so recht. Als Konsequenz aus allem verspürte sie gegen beide einen Hauch von Abneigung, wobei die gegenüber Will allerdings durch Toleranz und Zugeständnisse gemildert wurde, während bei James … Ihre Gefühle für ihn schrumpften stetig und wurden mit jedem Beisammensein ein bisschen weniger. Bald wird alles verschwunden sein, was ich einmal mit ihm gehabt habe, dachte sie, während man ihr und Will einen Tisch zuwies.
    Aus Begeisterung über den Geruch von Frittiertem bemühte sich Will redlich, die zum Glück begrenzte Speisekarte zu entziffern, wobei er zwischen Scholle und Goldbarsch schwankte. Sie bestellte ihm eine Cola. Trotz Wills Betteln hätte sie dieses Lokal nicht betreten, wenn es nicht ein gewisses Niveau gehabt hätte. So erbat sie sich ein großes Glas Weißwein.
     
    »Ach, was für hübsche Sachen! Schatz, du bist so lieb zu mir.«
    Jeremys Mutter freute sich ungemein, während sie die Blumen in sage und schreibe drei Vasen arrangierte, die Pralinen auspackte und den Flakon Turmalin aus seiner gelben Tüte holte. Jeremy genoss ihren Beifall und fühlte sich so glücklich wie noch nie seit dem ersten Erpressertelefonat. Zum Lunch zauberte seine Mutter eines seiner Lieblingsessen, eine Art Picknickkorb für Ascot und Glyndebourne, den sie nur selten anbot und er nur selten bekam: Räucherlachs, Wildpastete und Salat sowie Erdbeeren mit Sahne. Sie bestand darauf, dass sie den Champagner tranken.
    Nach dem Essen wich sie erneut von der Norm ab und kam auf seinen Vater zu sprechen. Als sie ein Fotoalbum hervorholte, an dessen Anblick er sich nicht erinnern konnte, ging es ihm durch den Kopf, dass der Name von Douglas Gibbons schon seit einigen Jahren überhaupt nicht mehr gefallen war. War das bei einer älteren Witwe merkwürdig? Oder lag es daran, dass die Erinnerung an einen Gefährten, der lediglich fünfzehn Jahre eines langen Lebens geteilt hatte, im Laufe der Zeit zwangsläufig verblasste und er die große Bedeutung einbüßte, die er einmal gehabt hatte?
    Jeremy wurde mit diversen Fotos konfrontiert: er mit elf, mit zwölf und dann im Schicksalsalter, mit dreizehn. Aus der Distanz eines halben Lebens wirkte das junge Ich wie das, was er damals gewesen war: ein ungewöhnlich großer Schuljunge mit dem glatten unerfahrenen Gesicht und den Unschuldsaugen eines Schuljungen. Hinter einem verkniffenen Lächeln verbarg sich die verhasste Zahnspange. Was hatte Tess in ihm gesehen, das ihn für sie sexuell begehrenswert erscheinen ließ? Das Gesicht seines Vaters? Während er einigermaßen gelassen diesen Gedanken nachhing, stand sie plötzlich vor ihm. Dort, auf dem nächsten Foto, mit seinen Eltern und einem Mann, der vielleicht jener Ehemann gewesen war, von dem sie sich getrennt hatte, sowie mit zwei anderen Leuten, in denen Jeremy ehemalige Nachbarn zu erkennen glaubte. Seine Ruhe war dahin. Trotz seines Bemühens, sich nichts anmerken zu lassen, schloss er beim Anblick ihres überdeutlichen Bildes wie unter Zwang die Augen.
    Zur selben Zeit, was er für puren Zufall hielt, zog seine Mutter das Album auf ihren Schoß und klappte es zu. »Ihr jungen Leute«, sagte sie, »findet alte Schnappschüsse ein bisschen langweilig, stimmt’s?«
    Sofort widersprach er. »Kein bisschen, kein bisschen. Es ist sehr lange her, seit ich ein Foto von Papa gesehen habe.«
    Rein instinktiv wollte er »meinem Vater« sagen, brachte aber doch »Papa« heraus, weil er dachte, es würde ihr gefallen. Wenn ja, ließ sie es sich nicht anmerken, sondern seufzte fast so, wie er Inez Ferry oft seufzen gehört hatte. Seines Erachtens nicht leidvoll oder aus Schmerz oder Verzweiflung, sondern aus Einsamkeit. Und doch lächelte sie ihn an und meinte: »Dein Vater war ein guter Ehemann.« Was sie sofort durch »im großen Ganzen« verdarb.
    Er war verblüfft. Plötzlich hatte er Angst, mehr zu hören. Was würde er tun, wenn alles herauskäme? Tess und möglicherweise – der Gipfel des Grauens – noch andere Frauen vor Tess? Aber bald wusste er, dass dies nicht drohte.

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