Der Duft des Bösen
er die Augen zu, lehnte sich zurück und dachte über mögliche Schritte nach. Hier bleiben und warten, bis sie kämen?
Diese Vorstellung reizte ihn nicht. Zu seiner Überraschung, der die Scham auf dem Fuß folgte, merkte er, dass er nur einen Wunsch hatte: nach Hause zu laufen, zu seiner Mutter. Doch das war unmöglich. Vielleicht würde er sie nie mehr sehen, oder wenn doch, dann im Gefängnis oder bei seinem Prozess. Denk nicht in solchen Begriffen, schalt er sich und zog die Schreibtischschublade auf, wo er die falschen Ohrringe, das Feuerzeug und den Schlüsselring verwahrt hatte, und steckte sie in seine Jackentasche. Besaß er noch ein anderes belastendes Stück? Ihm fiel nichts ein. Mit seinem Schlüssel in der rechten Hand ging er wieder nach unten. Noch immer schluchzte es hinter Cobbetts Tür. Inzwischen schimmerte zwischen Tür und Boden ein Lichtstreifen durch. Jeremy trat auf die Straße hinaus.
Die Straße sah fast so aus wie jede Nacht: leer. An allen Randsteinen parkten Autos, Stoßstange an Stoßstange, mit nur ganz wenig Platz dazwischen. An einem relativ neuen Peugeot hatte man die Seitenscheibe auf der Fahrerseite eingeschlagen. Sicher wegen des Radios oder wegen eines Handys. Er glaubte sich zu erinnern, dass das Fenster noch heil gewesen sei, als er heimgekommen war. Am Laternenpfahl an der Straßenecke hing ein Abfalleimer, doch den hatte man geleert. Am dritten Haus in der Bridgnorth Street hatten die Leute bereits ihren Abfall für die morgige Müllabfuhr hinausgestellt. Jeremy löste die Schnur oben am Müllsack. Übler Gestank ließ ihn zurückfahren. Noch eine Strafe für einen ausgezeichneten Geruchssinn. Er legte Ohrringe, Feuerzeug und Schlüsselring hinein und band den Sack wieder zu.
Als er wieder die Treppe hinaufstieg, blieb er vor Cobbetts Tür stehen. Das Licht war ausgegangen, das Weinen hatte aufgehört. Warum kümmerte ihn das? Nicht wegen Cobbett, dachte er, oder wer sonst dort drinnen sein mochte, ob Kind oder misshandelte Frau. Irgendwie hatte das Schluchzen ihm gegolten, ein Klagegesang um sein Leben, ein Trauerlied, weil dieses Leben im eigentlichen Sinne schon bald vorbei sein würde. Er begab sich wieder in seine Wohnung, zog sich aus und lag bald schlaflos auf seinem Bett.
Man möchte meinen, sagte Becky morgens um sieben Uhr zu sich, dass ihr Körper, angesichts der Art und Weise und der Menge ihres Trinkens, allmählich an hohen Alkoholkonsum gewöhnt sei und sie nicht mehr unter derart massiven Nachwirkungen leiden müsste. Normalerweise war es so. Sie schien eine Ausnahme zu sein. Sie müsste aufhören oder wenigstens die Menge drastisch reduzieren, schoss es ihr – wie jeden Morgen – erneut durch den Kopf. Sonst würde sie ihren Job gefährden, ihr Aussehen ruinieren, fett werden, vorzeitig altern und ihr Leben zerstören.
Taumelnd stand sie auf. Im Großen und Ganzen befolgten ihre Beine die Anweisungen, die sie erhielten. Ihr Kopf schwebte Richtung Zimmerdecke. Die heftigen Kopfschmerzen würden erst in einer halben Stunde einsetzen, der Anfang einer drakonischen Bestrafung. Nachdem sie ihre Zähne geputzt, den Mund ausgespült, sich vergeblich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und zwei Aspirin genommen hatte, fragte sie sich, warum. Warum trank sie gerade jetzt so viel, da sie frei war, Zeit im Überfluss, einen guten Job und reichlich Geld hatte? Ohne jeden Grund. Und genau deshalb war es Zeit, damit aufzuhören.
In ihrem Kopf gab es ziemlich schlimme Geräusche. Auf der linken Seite schien es dauernd zu rascheln, rechts pochte es regelmäßig und rhythmisch im Takt. Dazu gesellte sich noch in der Mitte, direkt über der Nasenwurzel, ein Klingeln. Sie machte die Augen zu und lehnte sich gegen den Küchentisch. Dann dämmerte ihr, dass es tatsächlich klingelte und nicht in ihrem Kopf. »Hallo. Wer ist da?«
»Ich bin’s, Will. Lass mich rein, Becky, bitte. Mir ist kalt.«
Sie drückte auf den Türöffner mit dem Schlüsselzeichen, machte die Wohnungstür auf und sank in den erstbesten Sessel. Will sah aus, als hätte er stundenlang geweint. Sein Gesicht war rot und aufgequollen, seine Augen zu Schlitzen verschwollen. Er schleppte einen offensichtlich schweren Koffer, den er zu Boden fallen ließ. Es war der größte seiner drei Koffer, Becky erkannte ihn wieder. Will sagte nichts. O Gott, dachte Becky, hat er schon wieder die Sprache verloren?
Hatte er nicht. »Kann ich einen Schluck Milch bekommen?«
»Ja, natürlich. Bedien dich
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