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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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fehlte das alles jetzt, da er es so sehr brauchte?
    Die Erkenntnis erfüllte ihn mit Schaudern. Es lag am Duft, an diesem namenlosen Duft. Er war nicht da, nur ein Hauch von Kokosnuss. Diesen Duft brauchte er unbedingt als Antriebsfeder, als auslösendes Moment für sein Handeln. Egal, er musste es auch ohne schaffen, er wusste ja, was er tat. Umso besser. Und wenn er es wie ein Getriebener unter Zwang tun konnte, dann musste er dazu auch ohne stimulierende Hilfsmittel fähig sein. Sie war auf den Baum zugegangen, wieder in diesem eleganten Gleitschritt. Er sah sie in dem einzigen vorhandenen Licht, das von der kleinen blassen Straßenlampe aus ihren Weg durchs Gras erhellte. Er sprang los, in jeder Hand ein Kabelende. Keuchend schnappte sie laut nach Luft, beugte sich vor und trat nach ihm. Er zog weiter mit aller Kraft am Kabel und hoffte, es würde ihr trotz der dicken schwarzen Stofflagen die Luftröhre abschnüren. Eine halbe Sekunde lang müsste er seinen Würgegriff lockern. Er tat es und zerrte ihr den Schal vom Hals. Mit einem Aufschrei fiel er zurück. Sein Knöchel streifte den vorstehenden Schilddrüsenknorpel.
    Ein Adamsapfel. Das war ein Mann! Ein sehr junger Mann mit glatter olivfarbener Haut, einer ziemlich langen Adlernase und Augen, in denen, entgegen des bisherigen leeren Blicks, Wut, Triumph oder Rache aufblitzten. Fauchend schürzte er die Oberlippe. Mit wilden Tritten ging er auf Jeremy los und kratzte ihn mit Nägeln, die für einen Jungen viel zu lang waren, aber Jeremy war größer und bekam seinen Erpresser mit bloßen Händen an der Kehle zu fassen. Er drückte zu und presste Daumen und Fingerspitzen hinein. Der Junge war überraschend stark, auch wenn er keuchte und würgte. Er brachte es fertig, Jeremy mit den Knien einen Stoß in den Unterleib zu versetzen. Der Schmerz war mörderisch. Jeremy fiel zwar nicht hin, aber er taumelte und stieß unfreiwillig einen lauten Schrei aus. Während er noch mühsam auf den Beinen zu bleiben suchte, packte der Junge die Tasche und rannte los. Er war jung und konnte schneller rennen als ein Achtundvierzigjähriger, viel schneller, auch wenn er dazu den Saum seines bodenlangen Mantels raffen musste. Weit abgeschlagen nahm Jeremy die Verfolgung auf und sah, wie der Bursche den Mantel abschüttelte und als einen Haufen auf dem Gehsteig liegen ließ. Den Schal hatte er bereits ins Gras fallen lassen. Nur die Tasche, die hielt er fest.
    Jeremy gab auf, zwangsläufig. Er wusste, wann er geschlagen war. Noch immer konnte er weit vor sich den Jungen sehen, der eigentlich ein Mädchen hätte sein sollen. Er war in die Penfold Street hineingelaufen. Jeremy humpelte hinter ihm her, gab aber bald auf. Der Junge hatte die vergleichsweise sichere Zone der Marylebone Road erreicht. Noch immer konnte er ihn rennen sehen. Im Höchsttempo steuerte er die U-Bahn-Station Baker Street an.
    Der stechende und brennende Schmerz in Jeremys Hodensack hatte nachgelassen, aber dafür ein qualvolles, beinahe unerträgliches Pochen hinterlassen. Gezwungenermaßen musste er sich auf eine der Holzbänke setzen. Nach einer kleinen Weile – der Schmerz hatte sich etwas gemildert – konnte er wieder denken. Die letzten zehn Minuten hatte er überhaupt nicht gedacht, sondern nur gehandelt und gelitten. Als er aufstand, um denselben Weg zurückzugehen, auf dem er gekommen war, dachte er über seine Tat nach. Die Garrotte hatte dem Jungen tief und sehr schmerzhaft ins Fleisch geschnitten und ihm für kurze Zeit die Luft abgeschnürt. Sobald er den Striemen oder sogar die offene Wunde entdeckte, würde er auf Rache sinnen. Er und das Mädchen, zweifellos seine Freundin. Würde er zur Polizei gehen? Wahrscheinlich, denn nun war Jeremy klar, dass man die Ohrringe gar nicht mehr ins Spiel bringen musste. Der Junge musste lediglich mit dem Striemen oder der Wunde am Hals als Beweisstück zur Polizei gehen und imstande sein, seinen Angreifer zu beschreiben und zu identifizieren. Und schon bald würden sie den von ihm geschilderten Mann wiedererkennen und direkt in die Star Street kommen …
    Zu Hause stieg er langsam die Treppe hinauf, wobei er sich nicht einmal von einem Schluchzen hinter Will Cobbetts Wohnungstür aufhalten ließ. Sicher ein Kind. Das restliche Haus lag dunkel und in ungestörter Ruhe da. Jeremy sperrte seine Wohnung auf und warf sich in einen Sessel, ohne das Licht einzuschalten. Schlaf schien ein unerreichbares Ziel zu sein. Nie wieder würde er schlafen. Und doch machte

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