Der Duft des Bösen
alles geschah vor einem Jahr. Kaum war er sechzehn geworden, konnte ihn niemand mehr zum Schulbesuch zwingen. Er hätte nicht einmal mehr daheim wohnen müssen und hätte heiraten können, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte, was selbstverständlich nicht der Fall war. Es gab fast nur noch eines, was er nicht tun konnte: wählen. Und wer wollte das schon?
Anfänglich hatte er seine nächtliche Abwesenheit durch Übernachtungen bei einem Freund erklärt, was sie ihm vielleicht nur glaubten, weil sie es glauben wollten. Sie wollten glauben, er verhalte sich genauso durchschnittlich und normal wie andere Jungs. Er kam ja auch durchaus nach Hause, sogar oft, für ein, zwei Nächte. Ein aufgeschossener, sehr schmaler, sehr gepflegter Junge in einem seiner dunklen Anzüge, der nach Kokosnussseife duftete, mit der er zu duschen pflegte. Mena Ghosh hätte ihm liebend gern Hemden und Unterwäsche gewaschen, wenn er sie ihr gebracht hätte, aber er ließ das in einer Wäscherei in der Edgware Road erledigen. Seine Eltern waren gesellige Leute. Häufig begleitete er sie zu einer ihrer Partys oder einem Dinner, wo er ältere Verwandte höflich mit »Tantchen« und »Onkel« ansprach. Seinen Schwestern half er bei den Hausaufgaben, und wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit ausgingen, begleitete er sie oft zu den Häusern ihrer Freundinnen. Er hatte immer viel Geld.
Umsichtig sei sein Sohn, redete sich Dr. Ghosh ein, und könne gut mit dem bescheidenen Taschengeld umgehen, das er ihm gab. Doch die handgenähten Schuhe brachten ihn ins Grübeln und auch der Ring mit einem Stein, der wie ein echter Diamant aussah. Nachdem jetzt Oxford unter den Tisch gefallen war, brachte er viel von der Zeit, die Anwar zu Hause war, damit zu, an ihm herumzunörgeln. Er solle doch wenigstens »einen Lehrberuf ergreifen«. Mit einer Lehre als Installateur oder Elektriker könne er sich wenigstens sein Brot verdienen. Stets verschwand Anwar nach einigen Tagen wieder. Er habe »ein paar Freunde« in Bayswater, meinte er. Das entsprach einigermaßen der Wahrheit, denn Julitta und Flint hatten ein Zimmer in den Sussex Gardens am Ende der Spring Street. Seinen eigenen Wohnsitz, wie er ihn vor seinen Kumpanen nannte, hatte er mit einem halben Dutzend anderer Leute, die je ein Zimmer belegten, von einem Türken gemietet. Mr. Sheket führte im Untergeschoss einen zwielichtigen Betrieb, wo fünfzehn Frauen zwölf Stunden täglich im Zwielicht an Nähmaschinen schufteten.
James hatte sich nie mehr gerührt. Die ersten paar Tage, nachdem er sie mit Will einfach auf der Haustreppe stehen gelassen hatte und verschwunden war, hatte sie nur Groll und Verbitterung gespürt. Welch ein oberflächlicher konventioneller Mann musste er sein, wenn er sie, ohne dass sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, einfach nur sitzen ließ, weil sie einen vermeintlichen Obdachlosen zum Verwandten hatte. Einfach so zu gehen, ohne auch nur auf eine Erklärung zu warten und zu versichern, er werde sich melden. Er hatte sich vor Will gefürchtet, dachte sie. Und nicht nur das. Aus Angst, er könnte eventuell zu irgendeiner Art Fürsorge für Will herangezogen werden und ihm helfen und vielleicht sogar Geld für ihn ausgeben müssen, hatte er sich gehütet, irgendeine nähere Beziehung mit ihr einzugehen. Kurze Zeit gelang es ihr, Verachtung für jemanden zu empfinden, der so egoistisch und feige sein konnte.
Als die Zeit ohne ein Zeichen von ihm verging, hätten sich diese Gefühle eigentlich verstärken müssen, bis sie in der Lage war, ihn restlos fallen zu lassen. Schließlich hatte es sich ja nicht gerade um eine reife Liebesaffäre gehandelt. Sie hatte ein paar Mal mit ihm telefoniert und war zweimal mit ihm ausgegangen. Ihr Stolz könnte verletzt sein, doch das müsste dann schon alles gewesen sein. Inzwischen müsste sie auf dem besten Wege sein, ihn zu vergessen. Sie konnte es nicht. Bei beiden Rendezvous war er so nett und charmant gewesen, witzig und einfühlsam. Er hatte sich für sie interessiert und sie offen bewundert. Und sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, zuerst ein wenig, dann stark. Auch wenn es noch keine ausgeprägte Vertrautheit gegeben hatte – sie hätte, beispielsweise auf dem Heimweg von der Party, geschworen, dass er der letzte Mann auf der Welt wäre, der sich so benehmen würde. Offensichtlich hatte sie ihn ganz und gar verkannt. Oder lag es vielleicht daran, dass es einen Wesenszug an ihm gab, den sie nicht verstanden hatte?
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