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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Konnte es sein, dass sein Verhalten nicht auf einen Mangel an Einfühlungsvermögen hindeutete, sondern auf das genaue Gegenteil? Hatte er gewusst, dass sie im Umgang mit Will niemanden in der Nähe haben wollte, und sich als überaus taktvoller Mensch rar gemacht?
    Wenn ja, warum hatte er sie dann nicht am selben Abend oder anderntags angerufen? So drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Einmal verdammte sie ihn, dann ersann sie für ihn Entschuldigungen, bis sie schließlich einen Entschluss fasste: Ihr einziger Weg, um diese Spekulationen ein für alle Mal zu beseitigen, war – ihn anzurufen. Mit einem Anruf bei ihm hatte sie nichts zu verlieren. Beim Klang ihrer Stimme könnte er den Hörer auflegen oder ihr erklären, er wolle sie nicht wieder sehen. Das wäre eine Bestätigung ihrer anfänglichen Gefühle. Dann wüsste sie, dass es sinnlos war, hinter ihm herzujammern. Oder er könnte ihr eine zweite Chance geben und wäre damit einverstanden, herüberzukommen und das Problem mit Will auszudiskutieren.
    Trotzdem wurde sie beim Gedanken an das kommende Wochenende verzagt. Die ganze Sache mit Will hatte sie restlos erschöpft, andererseits jedoch hatte sie ihn zu gern, um sich aufzulehnen. Also hatte sie sich müde einverstanden erklärt, er dürfe sowohl am Freitagabend als auch am Sonntag herüberkommen. Sonntag sogar den ganzen Tag. Angenommen, sie riefe James an und es würde funktionieren. Wenn er sie sehen wollte und sich verabreden würde, müsste sie als einzige Möglichkeit den Samstag vorschlagen. Warum nicht? Auf ihren vormittäglichen Streifzug durch die Geschäfte könnte sie getrost verzichten. Dieser belastete allmählich sowieso als banaler und fast schon beschämender Zeitvertreib ihr Gewissen.
    Sie würde ihn anrufen. Dies beschloss sie schließlich auf dem Heimweg von der Arbeit am Mittwochabend. Allerdings war es etwas ganz anderes, einen Entschluss zu fassen, als ihn auszuführen. Allein vor der Vorstellung, diesen Mann anzurufen, den sie nur so kurz kennen gelernt hatte, und sich zu überwinden, ihn um ein Rendezvous zu bitten, zuckte sie zurück und wand sich wie ein Wurm. Mehrmals ging sie zum Telefon, streckte die Hand danach aus und wich zurück. Als es schon fast auf neun Uhr ging, schenkte sie sich endlich einen großen Gin ein und ließ ihn wirken. Erst dann hob sie den Hörer ab und wählte rasch seine Nummer.
    Selbstverständlich war er nicht da. Seine Stimme auf dem Anrufbeantworter rief ihr sein Bild wieder lebhaft vor Augen: sein gutes Aussehen, sein angenehmes unkompliziertes Verhalten. Hatte sie ihm ihre Handynummer oder die ihres Büros gegeben? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls war es unwahrscheinlich, dass er sie immer noch hatte. Angenommen, er hätte sie vergessen, sogar ihren Namen …
    Nach dem langen Pfeifton sprach sie ins Telefon: »James, hier ist Becky Cobbett. Ruf mich doch, bitte, an. Ich würde gerne mit dir reden.« Sie nannte ihre Privatnummer und dann die ihres Handys und vom Büro. Der Gin hatte derart anregend gewirkt und ihr Selbstvertrauen so aufgebaut, dass sie noch einen trank und sich sofort wünschte, sie hätte es nicht getan.
    Am frühen Morgen wachte sie mit Kopfschmerzen auf. Zwei Aspirin halfen, machten sie aber auch benommen. Am liebsten hätte sie sich rücklings ins Bett fallen lassen und stundenlang geschlafen, doch das ging nicht, sie musste früh im Büro sein. Ihr Anrufbeantworter hatte keine Nachricht für sie aufgezeichnet. Was hatte sie sich eingebildet? Dass er sich so sehr nach einem Gespräch mit ihr sehnte und deshalb in den frühen Morgenstunden anrief?
    Um acht Uhr dreißig saß sie an ihrem Schreibtisch und eine Viertelstunde später in der Morgenkonferenz, dem eigentlichen Grund für ihr frühes Eintreffen. Becky war in ihrem Job viel zu gut, um sich durch Gedanken an eine entfernt mögliche und doch unwahrscheinliche Liebesbeziehung von den vorrangig wichtigen Dingen ablenken zu lassen. Diese wurden bis zum Ende der Konferenz um halb elf zurückgestellt. Als sie wieder in ihrem eigenen Büro saß, widerstand sie der Versuchung, per Fernabfrage ihren Anrufbeantworter auf eventuelle Nachrichten abzuhören. Stattdessen trank sie den Kaffee, den ihre Sekretärin brachte, erledigte ein halbes Dutzend wichtiger Anrufe, nahm doppelt so viele entgegen – jedes Mal in der Hoffnung, es könnte James sein – und wandte sich dann dem Rohentwurf des Marketingplans zu, den sie zurzeit erstellte. Um ein Uhr ging sie drunten

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