Der Duft des Regenwalds
überschüttete dann ihre ältere Tochter, die ein Wasserglas umgeworfen hatte, mit einem Schwall spanischer Wörter. Günter nutzte die Gelegenheit, um zu einer längeren Erklärung anzusetzen. So erfuhr Alice, dass nach der Hinrichtung des von den Franzosen eingesetzten Kaisers Maximilian 1867 ein gewisser Benito Juarez, gebürtiger Indio, ins Präsidentenamt aufgestiegen war und umfassende liberale Reformen durchführte. So war die Macht des Militärs und der Kirche, die bisher in Mexiko das Sagen gehabt hatten, eingeschränkt worden, und alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, wurden vor dem Gesetz für gleichwertig erklärt. Die darüber ungehaltenen konservativen Kreise brachten jedoch fünf Jahre später Porfirio Díaz an die Macht, der das Rad energisch wieder zurückdrehte.
»Im Augenblick ist die Regierung sehr konservativ, unterstützt die Großgrundbesitzer und die Kirche«, beendete Günter seine Erklärung und trank einen Schluck Bier. »Doch das führte auch zu einer bemerkenswerten Stabilität nach vielen Jahren des Chaos.«
»La politica es aburrida!« Damit fegte Emilia das für sie langweilige Thema vom Tisch. Günter verstummte folgsam. Die Kellner räumten inzwischen die Teller ab. Gleich darauf wurden zum Nachtisch Kaffee und Apfelkuchen serviert, die besser rochen als alle bisher dargebotenen Speisen. Alice’ Stimmung verbesserte sich ein wenig. Vielleicht war der für die zweite Klasse zuständige Koch nicht ganz so untalentiert wie befürchtet.
»Wie kommt es, dass Sie nicht verheiratet sind?«, fragte plötzlich ein zartes Mädchen an ihrer Seite, als Alice gerade ein Stück weichen, süßen Teig auf ihrer Zunge zergehen ließ. Emilias ältere Tochter, die ungefähr zwölf Jahre alt sein musste, sah sie mit großen, schwarzen, ernsten Augen an.
»Alberta, so etwas fragt man nicht, taktlos!«, schalt die Mutter. Die Übeltäterin errötete und sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Alice’ Mitgefühl war geweckt.
»Weil ich es eben nicht bin«, erwiderte sie so beiläufig wie möglich. »Es gefällt mir, allein zu leben. Ich bin Malerin, da bleibt mir nicht viel Zeit für eine Familie.«
Nicht nur Alberta, sondern auch Emilia und die drei anderen Kinder warfen ihr befremdete Blicke zu. Alice straffte die Schultern. Sie war es gewöhnt, wegen dieser Einstellung als seltsam angesehen zu werden.
»Na, sie ist noch jung und hat eine Menge Zeit. Es wird sich alles fügen, so wie es sein soll«, beendete Günter zu ihrer Erleichterung das Thema. Emilia aß nun ebenfalls Kuchen, der ihr ausnehmend gut zu schmecken schien, da sie für eine Weile schwieg. Nur Alberta musterte Alice weiterhin verstohlen aus den Augenwinkeln.
»So eine schöne Frau und ledig!«, erklärte sie völlig unerwartet. »In Mexiko werden sich die Männer um Sie prügeln, da bin ich mir sicher.«
Emilia tadelte die vorlaute Tochter noch mal auf Spanisch. Alice lächelte, um die Situation zu entspannen. Albertas Blicke ruhten voll aufrichtiger Bewunderung auf ihr, was sie zu ihrem eigenen Staunen sogar als schmeichelhaft empfand.
Vermutlich gab es in Mexiko nicht allzu viele Blondinen, überlegte sie. Sie würde sich gleich nach der Ankunft einen Hut besorgen, der ihr Haar verbarg. Das Letzte, wonach sie sich sehnte, waren gierig glotzende Kerle, die hinter ihr herliefen.
Nach dem Abendessen flüchtete Alice unter dem Vorwand, müde zu sein, in ihre Kabine, denn das unablässige Stimmengewirr in dem riesigen Speisesaal hatte in ihr ein Bedürfnis nach Stille und Alleinsein geweckt. Sobald die Tür hinter ihr zugefallen war, kramte sie den Reiseführer aus dem Koffer. Günter Grünwalds Ausführungen hatten sie wirklich neugierig gemacht, mehr über Mexiko zu erfahren. Sie erkannte den üblichen roten Baedeker-Einband. Die Ausgabe befasste sich hauptsächlich mit Nordamerika, schlug aber auch einen Ausflug nach Mexiko vor, für das es bisher keine eigenen Reiseführer zu geben schien, sodass die Mädchen aus dem Café Josty sich für dieses schwere, sicher nicht billige Buch entschieden hatten. Alice blätterte herum, doch sie erfuhr über Veracruz, das erste Ziel ihrer Reise, nur, dass es Touristen nicht viel Sehenswertes zu bieten hätte. Ungeduldig griff sie zum Reisebericht. Er war von einer Frau verfasst, Caecilie Seler-Sachs, deren Mann sich der Erforschung präkolumbianischer Altertümer gewidmet hatte. Patrick hatte mit ihm eine Weile in Briefkontakt gestanden, fiel ihr ein. In diesen Briefen beschrieb sie
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