Der Duft des Regenwalds
Horizont auf, zunächst nur als schmaler Streifen, der sich allmählich in Umrisse von Schiffen, Kirchtürmen und Gebäuden verwandelte. Hektik brach unter den Passagieren aus, sie huschten in ihre Kabinen, um ihre Habseligkeiten einzupacken, plapperten aufgeregt und applaudierten, da der Kapitän sie so rasch ans Ziel gebracht hatte. Die Reise über den Ozean war zu Ende.
Alice deckte das inzwischen getrocknete Ozean-Ölbild sorgfältig mit einem Tuch ab, um es dann in den Koffer zu legen. Das Bildnis der Grünwalds wollte sie ihnen zum Abschied schenken, denn sie wusste inzwischen, dass sie ihr durch die zunächst aufdringliche Fürsorge eine angenehme Reise ermöglicht hatten. Rasch verstaute sie ihre restlichen Habseligkeiten und setzte sich auf den Koffer, um ihn schließen zu können. Ihr Herz schlug schnell. In den letzten Nächten hatte sie manchmal von Harry geträumt, was sie sich durch jene Verlorenheit erklärte, die sie als Einzelwesen unter Familien manchmal überkam. Aber bald schon würde sie Patrick gegenüberstehen, ihrem Bruder, der sie besser kannte und verstand als jeder andere Mensch auf der Welt.
Sie schleppte ihr Gepäck erneut über die Gangway. Das Schubsen und Schreien war ebenso heftig wie beim Betreten des Schiffes, doch nun brannte eine erbarmungslose Sonne am Himmel. Alice hatte keine Hand frei, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie ahnte, dass ihr Sommerkleid bereits an den Achselhöhlen durchnässt war, und war dankbar für den Strohhut auf ihrem Kopf, denn sonst wäre ihr Gehirn vielleicht geschmolzen. Hinter ihr plapperte Emilia.
»Ich hoffe, Ihr Bruder hier, Señorita Wegener. Veracruz nicht gute Stadt für junge Frau allein, viele böse Menschen, kriminell.«
Alice unterdrückte einen Seufzer, denn diese Beschreibung klang nicht unbedingt beruhigend. Sie erblickte am Ufer eindeutig europäische Steingebäude, exotische Palmen und Verkaufsstände. Menschen in grell bunter Kleidung liefen herum, schrien und redeten ohne Unterlass wie Emilia. Selbst die Luft schmeckte anders in ihrer Kehle. Drei Schritte noch, dann standen ihre Füße wieder auf festem, wenn auch fremdem Boden. Zahllose dunkle Augen in braunen Gesichtern starrten ihr entgegen, und überall ertönten heisere Stimmen. Alice wurde schwindelig. Sie passte einfach nicht in dieses laute, bunte, chaotische Land. Vielleicht könnte sie noch an der fremdartigen Luft ersticken. Kurz schloss sie die Augen, denn Panik drohte, noch mehr Schweiß aus ihrem Körper zu pressen, und dann würde sie tatsächlich zerfließen wie eine Schneekönigin im Hochofen.
»Können Sie irgendwo Ihren Bruder sehen, Fräulein Wegener?« Günter Grünwald holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Aus Rücksicht auf Emilia unterdrückte sie den Impuls, sich an ihn zu lehnen, denn er war das einzig Vertraute in dieser Fremde. Stattdessen sah sie sich aufmerksam um, erblickte auch ein paar hellhäutige, europäisch wirkende Menschen, aber Patrick war nicht darunter. Ein kleiner Mann mit einem breiten Hut wollte ihr den Koffer aus der Hand reißen, sie wich erschrocken zurück und sah, wie Emilia den vermeintlichen Dieb mit lauten Schimpfworten verscheuchte.
»Er wollte nur Ihren Koffer tragen«, erklärte Günter. »Aber Sie sahen nicht gerade begeistert aus. Es ist natürlich vernünftig, wenn Sie Ihr Geld erst einmal sparen wollen.«
Alice fiel ein, dass sie kein mexikanisches Geld besaß. Dr. Scarsdale hatte ihr ein paar Dollarscheine geschickt, dann steckten noch deutsche Geldscheine in ihrem Portemonnaie, die sie bei Bedarf wechseln würde. Sobald sie irgendwo untergekommen war, musste sie ihre finanziellen Reserven zählen. Sie sog die schwüle Luft mit all den fremden Gerüchen in ihre Lungen. Es gab keinen Grund zur Hysterie, beruhigte sie sich. Sie würde Schritt für Schritt vorgehen, Patrick finden und Pläne schmieden.
Doch sie fand ihren Bruder nicht. Um sie herum wurde gelacht und geweint, Menschen fielen einander um den Hals, Koffer wechselten ihre Träger, und von Pferden gezogene oder auch motorisierte Gefährte beförderten die Reisenden in ihre neue Behausung. Alice stand steif da und starrte, während die Menschenmenge sich langsam lichtete und die Gangway des Dampfers hochgezogen wurde. Tränen schossen in ihre Augen und vermischten sich mit dem Schweiß, der über ihr Gesicht floss.
»Nicht da, su hermano? Vielleicht kommt später«, sagte Emilia und strich ihr tröstend über die Schulter.
»Wir
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