Der Duft des Regenwalds
ausführlich ihre erste Reise durch Mexiko und Guatemala, doch sie erwähnte im Inhaltsverzeichnis fast nur Namen von Orten, mit denen Alice nichts anfangen konnte: Oaxaca, Mixteca Alta, Isthmus. Außerdem enthielt das Buch Zeichnungen von Statuen mit grimmigen Gesichtern, die Alice bereits von Patricks Briefen kannte. Auf einigen Illustrationen waren auch Menschen mit breitkrempigen Hüten und Speeren in der Hand zu sehen, die ihr lebendige Ausgaben der Statuen schienen, denn auch sie blickten nicht besonders freundlich drein. Nach einer Weile ließ sie das Buch wieder sinken. Es gefiel ihr nicht. Sie hätte lieber mehr über diesen Benito Juarez erfahren, der tatsächlich versucht hatte, das Licht der Moderne in ein Land zu bringen, das seit Jahrhunderten vom Recht des Stärkeren bestimmt worden war. Ein gebürtiger Indio. Patricks Berichte über die indianischen Völker des alten Amerika hatten blutige Menschenopfer beschrieben und in ihr die Vorstellung von einer streng autoritär geführten, hierarchisch strukturierten Gesellschaft geweckt. Sie hatte nicht verstehen können, was ihren sanftmütigen Bruder an dieser fremden, blutrünstigen Kultur faszinierte. Doch waren auch Indios wohl in der Lage, aufgeklärtes Denken zu begreifen.
Verwirrt angesichts der rätselhaften Widersprüche dieser Welt und ihrer Bewohner, rieb sie sich die Schläfen. Wieder wurden ihre Augenlider schwer. Sie schaffte es noch, das Kleid gegen ein Nachthemd zu tauschen und sich an dem rostigen Wasserhahn zu waschen. Dann schaukelte das Schiff sie in den Schlaf, trotz der lautstarken Auseinandersetzungen der Grünwalds hinter der dünnen Wand. Diesmal schlichen sich jene kleinen, braunen Menschen mit schmalen Augen und breiten Gesichtern, die sie auf den Zeichnungen in Patricks Forschungsbüchern gesehen hatte, in ihre Träume, kletterten statt der Spinnen und Schlangen an den Gebäuden herum. Sie schlief dennoch friedlich, bis ein weiteres Klingeln sie zum Frühstück weckte.
Alice gewöhnte sich daran, dass die Welt jenseits des Schiffs nur aus verschiedenen Tönen von endlosem Blau bestand. Wasser und Himmel verschmolzen am Horizont miteinander, verdunkelten in der Abenddämmerung ihre Farbe, manchmal von aufregend goldroten Sonnenuntergängen bereichert, zu denen sich fast alle Passagiere an Bord versammelten. Am finsteren Nachthimmel entdeckte Alice einen Reichtum an Sternen, der ihr in Berlin stets verborgen geblieben war. Tagsüber sprangen manchmal Delfine um das Dampfschiff herum, denen Kinder Brotkrumen zuwarfen. Einige Male wühlte starker Wind das Wasser auf, doch ein wirklicher Sturm blieb ihnen erspart. Zu ihrem eigenen Erstaunen litt Alice nicht unter Seekrankheit wie viele ihrer Mitreisenden. Es gefiel ihr, vormittags in einem Liegestuhl auf dem Schiffsdeck zu sitzen. Nach dem Mittagessen verschwand sie meist in ihrer Kabine und versuchte, all jene neuen Eindrücke in ihrem Kopf zu sortieren und auf die Leinwand zu bannen. Bisher war sie keine Landschaftsmalerin gewesen, hatte Frauengestalten, Szenen aus Kaffeehäusern und Tanzveranstaltungen und manchmal auch reine Phantasiewesen gemalt, doch die Weite des Ozeans war zu überwältigend, um sich ihr zu entziehen. Sie hatte Markus Severin, dem Besitzer der kleinen Galerie, die ihre ersten Bilder ausgestellt hatte, bei ihrer für Januar geplanten Rückkehr bereits mindestens zehn neue Arbeiten versprochen und war entschlossen, diese auch termingerecht fertigzustellen. Noch nie im Leben hatte sie so viel Muße zum Malen gehabt wie hier auf dem Schiff, doch seltsamerweise schlich sich dadurch eine gewisse Trägheit in ihren Tagesablauf. Sie genoss es, lange und aufmerksam beobachten zu können, Farben, Formen und deren allmähliche Veränderung zu studieren, bevor sie sich an die Arbeit machte. Neben Himmel, Ozean und Sternen nahm auch Emilia Grünwald auf der Leinwand Gestalt an, gemeinsam mit dem schlaksigen deutschen Ehemann. Günter brachte trotz Emilias Protesten einen scharfen mexikanischen Schnaps mit, den sie gemeinsam tranken, sobald Alice den Pinsel niederlegte. Sie gewöhnte sich daran, diese Familie fast ständig um sich zu haben, was ihr weitaus weniger einengend erschien als ihre bisherigen Erfahrungen mit verwandtschaftlicher Geselligkeit.
Mit jedem Tag wurde es ein wenig wärmer, und bald schon flüchteten etliche Passagiere um die Mittagszeit in ihre Kabinen. Alice kramte ein cremefarbenes Sommerkleid aus ihrem Koffer. Es war ihr einziges bei diesen
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