Der Duft des Sommers
vorwerfen können, die ich getan hatte, weitaus schlimmere Dinge, und auch sie vergab mir.
N un also musste ich mit meinem Vater und Marjorie leben. Wie ich schon geahnt hatte, kauften sie ein Etagenbett, damit Richard und ich in seinem kleinen Zimmer mehr Platz hatten. Richard schlief unten.
Wenn ich nachts oben auf diesem Bett lag, berührte ich mich nicht mehr selbst wie früher zuhause. So sehr ich dieses neue geheimnisvolle Gefühl geliebt hatte, so sehr verband ich es nun mit allem, was einem das Herz brechen konnte: Küsse und Flüstern im Dunkeln, lange kehlige Seufzer, diese Tierschreie, die ich nur zu Anfang für Schmerzenslaute gehalten hatte. Franks wildes lustvolles Stöhnen, das sich anhörte, als sei die Erde aufgebrochen und ein blendend helles Strahlen erleuchte alles ringsumher.
Das alles hatte damit angefangen, dass Körper andere Körper fanden, dass Hände Haut berührten. Und so ließ ich meine Hände neben meinem Körper liegen, atmete gleichmäßig und starrte an die Decke über meinem harten schmalen Bett, wo Albert Einstein mir die Zunge rausstreckte. Vielleicht der klügste Mann, der je gelebt hatte. Er hatte bestimmt gewusst, dass alles nur ein schlechter Witz war.
Das einzige Klopfen an der Wand, das ich jetzt hören konnte, begann um halb sechs morgens: meine kleine Schwester Chloe (denn ich verstand jetzt, dass sie genau das war: meine Schwester), die der Welt verkündete, dass ein neuer Tag begonnen hatte. Kommt und holt mich, besagte ihr Ruf, nur mit weniger Wörtern. Und nach einer Weile tat ich das dann auch.
Marjorie gab sich Mühe. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass ich nicht ihr Sohn war. Ich verkörperte für sie alles Unnormale in dem so sehr normalen Leben, das sie und mein Vater sich mit ihren beiden Kindern geschaffen hatten. Sie mochte mich nicht sonderlich, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Und war insofern auch in Ordnung.
Mit Richard lief es besser, als ich erwartet hätte. So unterschiedlich wir auch waren – ich wollte in Narnia leben, er für die Red Sox spielen –, gab es doch eine Sache, die wir gemeinsam hatten. Beide hatten wir ein Elternteil, das anderswo lebte – anderes Blut in unseren Adern. Die Geschichte seines leiblichen Vaters kannte ich nicht, aber mit dreizehn war ich bereits in der Lage zu verstehen, dass Trauer und Leid in vielerlei Form auftreten können.
Zweifellos hatte Richards Vater ebenso wie meine Mutter sein Baby im Arm gehalten, in die Augen der Kindsmutter geblickt und geglaubt, dass sie ihre gemeinsame Zukunft in Liebe gestalten würden. Doch es war ihnen nicht gelungen, und diese Last hatten sowohl Richard als auch ich zu tragen, wie vermutlich jedes Kind, dessen Eltern nicht mehr unter einem Dach leben. Denn wo du auch zuhause bist: Es gibt immer diesen anderen Ort, diese andere Person, die nach dir ruft. Komm zu mir. Komm zurück.
In der ersten Zeit, in der ich bei meinem Vater in unserem früheren Haus lebte, schien er nicht zu wissen, was er mit mir reden sollte. Also sagte er häufig gar nichts. Mir war klar, dass man Anträge eingereicht und im Hinblick auf den dubiosen Lebenswandel meiner Mutter Aussagen vor Gericht gemacht hatte, aber ich muss es meinem Vater zugutehalten,
dass er darüber nicht mit mir redete. Die Zeitungen hatten ohnehin schon alles gesagt.
Ein paar Wochen nachdem ich bei meinem Vater und Marjorie eingezogen war – etwa zu der Zeit, als ich mich entschieden hatte, weder Lacrosse noch Fußball spielen zu wollen –, schlug mein Vater vor, ob wir nicht zusammen eine Fahrradtour machen wollten. In manchen Haushalten – Familien wollte ich nicht sagen, weil ich uns nicht als solche betrachtete – wäre so etwas nichts Besonderes gewesen. Aber früher war jede sportliche Tätigkeit, bei der man weder Trophäen gewinnen noch jemanden besiegen konnte, von meinem Vater komplett ignoriert worden.
Als ich ihm sagte, mein Rad funktioniere nicht mehr richtig, meinte er, er würde ein neues für mich anschaffen, ein Mountainbike mit einundzwanzig Gängen. Und sich selbst wollte er auch gleich eines kaufen. An diesem Wochenende fuhren wir beide zusammen nach Vermont – es war die Zeit, zu der die Laubfärbung dort besonders schön aussah – und unternahmen eine Radtour durch mehrere kleine Städte. Wir übernachteten in einem Motel außerhalb von Saxon’s River. Das Gute beim Radfahren ist, dass man nicht so viel reden kann. Vor allem nicht bei diesen steilen Hängen in Vermont.
An diesem
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