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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Berge.

    Als wir nach Hause kamen, blinkte das Licht am Anrufbeantworter, und Frank erwartete uns schon an der Tür.

    Ich hab nicht abgenommen, sagte er. Aber ich habe die Nachricht gehört. Henrys Vater hat irgendwie mitgekriegt, dass wir aus der Stadt verschwinden wollen. Er will herkommen. Wir sollten schleunigst aufbrechen.
    Ich rannte nach oben. Eigentlich hatte ich noch einmal langsam durch alle Zimmer gehen wollen, aber jetzt mussten wir uns beeilen. Mein Vater war vermutlich schon auf dem Weg hierher.
    Henry, rief meine Mutter. Komm runter, schnell, wir müssen jetzt los.
    Ich schaute noch einmal aus dem Fenster meines Zimmers, über die Dächer der anderen Häuser. Wiedersehen, Baum. Wiedersehen, Garten.
    Henry, komm jetzt sofort runter.
    Hör auf deine Mutter, Junge. Wir müssen los.
    Dann hörten wir eine Sirene. Und noch eine. Quietschende Reifen. In unserer Straße.
    Ich ging die Treppe runter. Langsam. Wir würden nirgendwo mehr hinfahren, das wusste ich jetzt. Über dem Haus dröhnte ein Helikopter.
    Bis zu diesem Moment war mir alles in meinem Leben – ausgenommen die Erlebnisse mit Eleanor – zu langsam vorgekommen, aber jetzt schien es, als hätte jemand den Film auf Schnelldurchlauf gestellt und man bekäme kaum noch mit, was passierte. Bis auf meine Mutter. Die stand stocksteif da und konnte sich nicht mehr bewegen.
    Sie stand in dem leeren Wohnzimmer, in der Hand die Tüte vom Hamsterfutter.
    Frank stand neben ihr, wie ein Mann, der dem Erschießungskommando
entgegentreten muss. Er nahm ihre Hand.
    Hab keine Angst, Adele, sagte er.
    Ich verstehe das nicht, sagte sie. Wie haben sie es rausgekriegt?
    Mein Herz schien zu explodieren.
    Ich habe Dad einen Brief geschrieben, damit er wenigstens wusste, dass wir weggehen, sagte ich. Ich habe aber nichts von Frank gesagt. Und ich hab nicht gedacht, dass er den Brief so früh am Tag liest. Normalerweise schaut er sich die Post erst nach dem Abendessen an.
    Draußen hielten mit quietschenden Reifen mehrere Autos. Einer der Streifenwagen fuhr auf den Rasen, auf dem meine Mutter einmal versucht hatte, Wiesenblumen anzupflanzen, was aber nicht funktioniert hatte. Einige der Nachbarn, die nicht arbeiteten – Mrs. Jervis, Mr. Temple –, kamen aus ihren Häusern.
    Jetzt hörte man eine Megaphonstimme. Frank Chambers. Wir wissen, dass Sie da drin sind. Kommen Sie sofort mit erhobenen Händen heraus, dann geschieht niemandem etwas.
    Frank stand sehr aufrecht, mit dem Rücken zur Tür. Hätte nicht der Muskel an seinem Hals gezuckt, der mir schon aufgefallen war, als ich ihn zum ersten Mal sah, hätte er einer von diesen Männern sein können, die in Parks als Statuen auftreten und sich damit Geld verdienen. So reglos war er. Nur seine Augen bewegten sich.
    Meine Mutter schlang die Arme um ihn, berührte seinen Hals, seine Brust, seine Haare. Strich mit den Fingern über sein Gesicht, als wäre es aus Ton, den sie modellieren würde.
Seine Lippen, seine Augenlider. Ich lasse nicht zu, dass sie dich holen, flüsterte sie.
    Hör zu, Adele, sagte er. Ich möchte, dass du alles tust, was ich jetzt sage. Wir haben keine Zeit zum Diskutieren.
    Auf der Küchentheke lag Schnur, die sie für die Kisten benutzt hatten, mit denen wir unser neues Leben in Kanada beginnen wollten. In der Schublade lag noch ein Messer zum Schneiden der Schnur.
    Setz dich auf diesen Stuhl, sagte er. Seine Stimme klang anders, kaum mehr wiederzuerkennen. Streck die Hände hinter den Rücken, die Füße nach vorne. Du auch, Henry.
    Er wand die Schnur um ihr rechtes Handgelenk. Ich sah, dass sie zitterte. Sie weinte jetzt, aber er blickte nicht in ihr Gesicht. Konzentrierte sich nur auf den Knoten. Als er ihn geknüpft hatte, zog er ihn zu, und ich sah, dass die Schnur an ihrer Haut schürfte. In jeder anderen Situation hätte er diese Stelle sofort gestreichelt, aber er schien es nicht zu bemerken oder sich nicht darum kümmern zu wollen.
    Dann nahm er sich ihre andere Hand vor. Die Füße. Um die Knöchel zu verschnüren, musste er meiner Mutter die Schuhe ausziehen. Die rotlackierten Zehennägel kamen zum Vorschein. Die Stelle an ihrem Knöchel, die er einmal geküsst hatte.
    Wir hörten Polizeifunk draußen, Männerstimmen, die in Funkgeräte sprachen, den Helikopter direkt überm Haus. Noch drei Minuten, sagte die Stimme am Megaphon. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.
    Setz dich hin, Henry, sagte Frank.
    So wie er jetzt mit mir sprach, hätte niemand ahnen können,
dass wir zusammen

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