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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Abend gingen wir in ein Diner, das gerade ein Rippchen-Special anbot. Den größten Teil der Mahlzeit brachten wir schweigend zu. Doch als die Kellnerin meinem Vater dann eine Tasse Kaffee brachte, veränderte er sich irgendwie. Komischerweise erinnerte er mich dabei an Frank, und zwar in dem Moment, als draußen die Streifenwagen
hielten, der Helikopter überm Haus dröhnte und die Megaphonstimme zu hören war. Mein Vater kam mir plötzlich vor wie ein Mann, der weiß, dass er nur noch wenig Zeit hat und sich jetzt entscheiden muss. Und ähnlich wie Frank beschloss er am Ende, sich auszuliefern.
    Und so begann er über das eine Thema zu sprechen, das wir immer vermieden hatten: meine Mutter. Und zwar sprach er nicht darüber, dass sie sich keinen richtigen Job suchte oder psychisch zu labil war, um mich zu betreuen – beides war schließlich bereits beschlossene Sache. Stattdessen begann er von früher zu erzählen.
    Sie war eine tolle Frau, weißt du, sagte er. Humorvoll. Wunderschön. Außer am Broadway gab es niemanden, der so tanzen konnte wie sie.
    Ich saß nur da und löffelte meinen Milchreis. Klaubte die Rosinen raus, genauer gesagt. Ich sah meinen Vater nicht an, aber ich hörte aufmerksam zu.
    Diese Reise nach Kalifornien war eine der besten Zeiten meines Lebens, sagte er. Wir hatten so wenig Geld, dass wir die meiste Zeit im Auto schliefen. Aber einmal, in Nebraska, nahmen wir uns ein Motelzimmer mit Kochnische, und da kochten wir Spaghetti auf der Kochplatte. Wir hatten keinen Schimmer von Hollywood, wir kamen ja aus einer Kleinstadt. Aber als Adele noch kellnerte, hat sie einmal eine Tänzerin bedient, die früher zu den June Taylor Dancers in der Jackie Gleason Show gehört hatte. Die schrieb sich Adeles Nummer auf und sagte, wenn sie mal in L.A. sei, solle sie sich doch melden. Das hatten wir vor: diese Tänzerin anzurufen. Aber als wir das taten, meldete sich ihr Sohn am
Telefon. Sie selbst war inzwischen in einem Pflegeheim, offenbar wegen Altersdemenz. Und weißt du, was deine Mutter machte? Wir gingen sie besuchen. Und Adele brachte ihr Kekse mit.
    Jetzt schaute ich auf und sah meinen Vater an. Sein Gesicht wirkte verändert. Ich hatte immer gedacht, dass ich ihm kein bisschen ähnlich sah – hatte mich sogar gefragt (weil Eleanor dieses Thema aufbrachte), ob ich überhaupt sein leiblicher Sohn sein konnte, wo wir doch so unterschiedlich waren. Und von einem Typen wie ihm hätte man eigentlich nie angenommen, dass er jemanden wie meine Mutter heiraten würde. Aber als ich nun über den Diner-Tisch hinweg diesen blassen, leicht untersetzten Mann mit schütteren Haaren und seinem neu angeschafften Fahrradtrikot – das er vermutlich nie wieder tragen würde – ansah, kam mir irgendwas an ihm vertraut vor. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, wie er als junger Mann gewesen war. So wie meine Mutter ihn beschrieben hatte: der Mann, der genau wusste, wie viel Druck seine Hand am Rücken einer Frau ausüben musste, um sie über die Tanzfläche zu führen. Der verrückte junge Bursche, dem sie zutraute, dass er sie richtig stützen würde, als sie mit ihrer roten Unterwäsche einen Salto machte. Ich konnte sogar mein eigenes Gesicht in seinem erkennen. Er weinte nicht, aber seine Augen waren feucht.
    Diese Kinder zu verlieren, das hat sie fertiggemacht, sagte er. Vor allem das letzte. Das hat sie nicht verkraftet.
    Den restlichen Milchreis in meiner Schale aß ich nicht mehr. Auch mein Vater hatte seinen Kaffee noch nicht angerührt.

    Ein besserer Mann wäre an ihrer Seite geblieben, um ihr darüber hinwegzuhelfen, sagte er. Aber nach einer Weile konnte ich diese ganze Traurigkeit nicht mehr aushalten. Ich wollte ein normales Leben führen. Ich hab mich verdrückt.
    Ich lernte Marjorie kennen, und wir bekamen Chloe zusammen. Damit war nicht alles von früher vergessen, aber es fiel mir leichter, nicht mehr darüber nachzudenken. Doch für deine Mutter ist diese Geschichte bis heute nicht zu Ende.
    Mehr erzählte mein Vater nicht, und wir kamen auch nie mehr auf dieses Thema zu sprechen. Er bezahlte die Rechnung, und wir gingen zurück in unser Motel. Am nächsten Morgen fuhren wir noch eine Weile Rad, aber mir wurde bewusst, was für ein unnatürlicher Zustand es für meinen Vater war, sich mit irgendetwas anderem als einem Kombi über die Hügel von Vermont zu quälen. Als ich nach ein paar Stunden vorschlug, ob wir nicht heimfahren wollten, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Auf dem Heimweg

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