Die Kreatur
1
Deucalion hatte während eines Gewitters das Licht der Welt erblickt, von seltsamen Blitzen berührt, die belebten statt zu verbrennen. Er war in einer Nacht heftigen Ungestüms geboren worden.
Es herrschte ein Tumult wie in einem Tollhaus, und eine Kakophonie aus seinen gequälten Schreien, dem Triumphgeheul seines Schöpfers und dem Surren, Knattern und Knistern geheimnisvoller Apparaturen hallte von den kalten Steinmauern des Laboratoriums in der alten Windmühle wider.
Als er sich der Welt bewusst wurde, war Deucalion an einen Tisch gefesselt. Das war der erste Hinweis darauf, dass er als Sklave erschaffen worden war.
Im Gegensatz zu Gott sah Victor Frankenstein keinen Wert darin, seinen Geschöpfen einen freien Willen zu geben. Wie alle Utopisten zog auch er dem unabhängigen Denken blinden Gehorsam vor.
Jene Nacht vor mehr als zweihundert Jahren hatte Wahnsinn und Gewalttätigkeit als ein Thema vorgegeben, das Deucalions Leben noch Jahre später bestimmen sollte. Seine Verzweiflung hatte seinen Zorn genährt. In seinen Wutausbrüchen hatte er getötet, grausam und brutal.
Im Laufe all der Jahrzehnte hatte er gelernt, sich zu beherrschen. Sein Leid und seine Einsamkeit hatten ihn erst Erbarmen gelehrt und mit der Zeit auch Mitgefühl. Er hatte seinen Weg zur Hoffnung gefunden.
Und doch überkommt ihn noch heute ohne akuten Anlass in gewissen Nächten Wut. Ohne rationale Ursache schwillt diese
Wut zu einer Raserei an, die ihn mit sich zu reißen droht, bis eine Grenze überschritten ist, wo keine Vernunft und Besonnenheit mehr walten.
Als er in dieser Nacht in New Orleans durch eine Seitenstraße am Rande des French Quarter lief, verspürte Deucalion Mordlust. Nuancen von Grau, Blau und Schwarz wurden nur durch das Blutrot seiner Gedanken belebt.
Die Luft war warm und schwül und von gedämpftem Jazz erfüllt, den die Wände der berühmten Jazzclubs nicht vollständig absorbierten.
In der Öffentlichkeit hielt er sich im Schatten und benutzte Seitenstraßen, da seine Furcht einflößende Größe Interesse weckte. Letzteres galt auch für sein Gesicht.
Aus der Dunkelheit neben einer Abfalltonne trat eine schrumplige, mit Rum getränkte Rosine von einem Mann. »Friede in Jesus, Bruder.«
Obwohl diese Begrüßung nicht gerade darauf schließen ließ, dass der Mann sich in dunklen Gassen herumtrieb, um Leute auszurauben, drehte sich Deucalion in der Hoffnung zu der Stimme um, der Fremde hielte ein Messer oder eine Pistole in der Hand. Selbst wenn die Wut ihn gepackt hatte, brauchte er für Gewalttätigkeiten eine Rechtfertigung.
Der Schnorrer hatte mit nichts Bedrohlicherem als einer schmutzigen aufgehaltenen Hand und grässlichem Mundgeruch aufzuwarten. »Nur einen Dollar, mehr brauche ich nicht.«
»Für einen Dollar bekommst du nichts«, sagte Deucalion.
»Gott segne dich, wenn du großzügig bist, aber ein Dollar ist alles, worum ich bitte.«
Deucalion widerstand dem Drang, die ausgestreckte Hand zu packen und sie wie einen trockenen Zweig am Handgelenk abzubrechen.
Stattdessen wandte er sich ab und sah sich auch dann nicht um, als der Schnorrer ihn verfluchte.
Als er gerade am Kücheneingang eines Restaurants vorbeikam, ging die Tür auf. Zwei Latinos in weißen Hosen und T-Shirts traten heraus, und einer bot dem anderen eine Zigarette aus einem offenen Päckchen an.
Der Schein der Lampe über der Tür und einer weiteren Lampe genau gegenüber auf der anderen Straßenseite fiel auf Deucalion.
Sein Anblick ließ beide Männer erstarren. Die eine Hälfte seines Gesichts schien normal und sogar recht attraktiv zu sein, doch seine andere Gesichtshälfte war von einer raffinierten Tätowierung bedeckt.
Das Muster war von einem tibetanischen Mönch, der Geschick im Umgang mit Nadeln besaß, entworfen und aufgetragen worden. Dennoch verlieh es Deucalion einen grimmigen und fast schon dämonischen Aspekt.
Tatsächlich diente diese Tätowierung als eine Art Maske. Sie war dazu gedacht, das Auge von den beschädigten Strukturen darunter abzulenken, von Schäden, die sein Schöpfer höchstpersönlich in einer weit zurückliegenden Vergangenheit angerichtet hatte.
Im schräg einfallenden Licht war Deucalion so deutlich zu sehen, dass den beiden Männern das ungeheuerliche Muster unter der Tätowierung nicht entging, auch wenn sie das, was sie sahen, nicht zu deuten wussten. Sie betrachteten ihn weniger mit Furcht als mit feierlichem Respekt, als würden sie soeben Zeugen einer
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