Der dunkle Fluss
Falten, die schlaffe Haut. Sie würde mir niemals vertrauen. »Sie ist immer noch meine Schwester«, sagte ich.
Sie lachte, aber es klang bitter. »Du willst es wissen — schön, ich sage es dir. Sie bringt Blumen zu Gray Wilsons Grab. Das tut sie jeden Monat.« Wieder drang ein gepresster Laut aus ihrer Kehle. »Eine hübsche Ironie, nicht wahr?« Ich wusste keine Antwort darauf, also hielt ich den Mund und half Janice die Treppe hinunter. »Bring mich in den Salon«, sagte sie, und dort setzte sie sich auf die Kante des Ohnmachtssofas. »Tu mir einen letzten Gefallen«, sagte sie. »Geh in die Küche und hol mir Eis und ein frisches Handtuch.«
Ich war auf halbem Weg zur Küche, als die Tür zum Salon zugeschlagen wurde. Ich stand immer noch da, als der Schlüssel sich in dem schweren Schloss drehte.
Ich klopfte zweimal, aber sie antwortete nicht. Ich hörte ein leises, schrilles Geräusch. Es klang wie ein Klagelaut.
Miriam fand ich dort, wo sie nach den Worten ihrer Mutter sein sollte. Sie kniete vornübergebeugt am Boden, und von Weitem sah es aus, als habe sich eine riesige Krähe auf dem Grab niedergelassen. Der Wind strich zwischen den verwitterten Grabsteinen hindurch und bewegte ihr Kleid; alles, was noch fehlte, war das glänzende Gefieder und der klagende Schrei. Ich sah, dass sie sich bewegte. Geschickte Finger fanden das Unkraut und zupften es aus der Erde, und der Rosenstrauß war präzise zurechtgerückt. Sie blickte auf, als sie mich hörte. Tränen liefen über ihre Wangen.
»Hallo, Miriam.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Deine Mutter.«
Sie rupfte noch ein Büschel Unkraut heraus und warf es in den Wind. »Sie hat dir gesagt, dass ich hier bin?«
»Überrascht dich das?« Sie senkte den Kopf und wischt sich die Tränen ab. Ihre Finger hinterließen eine Spur von schwarzer Erde unter einem Auge. »Sie ist dagegen, dass ich hierherkomme. Sie sagt, es ist morbide.«
Ich hockte mich auf die Fersen. »Deiner Mutter ist die Gegenwart sehr wichtig, glaube ich. Die Gegenwart und die Zukunft. Nicht die Vergangenheit.« Sie schaute forschend in den lastenden Himmel hinauf. Er schien sie niederzudrücken. Ihre Tränen flossen nicht mehr, aber sie sah immer noch eingefallen und grau aus. Der Strauß neben ihr war bunt und grell und tautränenfrisch. Er lehnte an dem Stein mit dem Namen des toten Jungen. »Stört es dich, dass ich hier bin?«, fragte ich.
Sie war plötzlich sehr still. »Ich habe nie geglaubt, dass du ihn umgebracht hast, Adam.« Sie legte mir zögernd die Hand auf das Knie — eine tröstende Geste, dachte ich. »Es stört mich nicht.«
Ich wollte meine Hand auf ihre legen, aber im letzten Moment berührte ich stattdessen ihren Unterarm. Sie zuckte zurück, und ein zischender Schmerzlaut drang aus ihrem Mund. Dunkle Gewissheit erfüllte mich. Das Gleiche war im Krankenhaus passiert, als ich ihren Arm berührt hatte; sie hatte behauptet, ich hätte sie erschreckt. Jetzt bezweifelte ich das.
Sie richtete den Blick auf den Boden und hielt den Arm fest an den Körper gedrückt, als habe sie Angst, ich könnte ihn noch einmal anfassen. Sie drehte die Schulter weg von mir. Sie hatte Angst. Ich sprach leise. »Darf ich es sehen?«
»Was sehen?« Abwehrend. Kleinlaut.
Ich seufzte. »Ich bin dazugekommen, als deine Mutter dein Zimmer durchsuchte. Sie hat die Rasierklinge gefunden.« Sie zog die Schultern zusammen und machte sich rund und klein. Ich dachte an ihre langen Ärmel, die weiten Röcke, die langen Hosen. Sie hielt ihre Haut verborgen. Anfangs hatte ich mir noch nichts dabei gedacht, aber die Rasierklinge setzte das alles in ein neues Licht.
»Das hätte sie nicht tun dürfen. Das ist ein Übergriff.«
»Ich kann nur annehmen, dass sie sich Sorgen um dich macht.« Ich wartete kurz, bevor ich sie noch einmal fragte. »Darf ich es sehen?«
Sie stritt nichts ab, aber ihre Stimme wurde noch dünner. »Sag Daddy nichts.«
Ich hielt ihr die offene Hand entgegen. »Okay.«
»Ich tu es nicht oft«, sagte sie. Ich sah die Angst in ihren seelenvollen Augen, doch sie hielt mir den halb gekrümmten Arm entgegen. Ich nahm ihre Hand; sie war heiß und feucht. Ihre Fingerdrückten fest zu, als ich den Ärmel so behutsam hinaufschob, wie ich konnte. Zischend sog ich die Luft zwischen den Zähnen ein. Da waren frische Schnittwunden und andere, die halb verheilt waren. Und da waren Narben, dünn und weiß und grausam.
»Ihr wart nicht in einem Wellness-Hotel, nicht wahr?«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher