Der dunkle Fluss
verliebt, seit sie klein waren, aber sie hatte ihm nie Beachtung geschenkt. Er war liebeskrank und verzweifelt und traurig gewesen, so sehr, dass es mitunter wehgetan hatte, ihm dabei zuzusehen. Sie hatte sich gefügt, das sah ich jetzt. Allein und dazu bestimmt, es zu bleiben, hatte sie sich für den einfachen Weg entschieden. Das würde sie niemals zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, doch es war eine Tatsache, wie der Himmel über uns eine Tatsache war, und ich fragte mich, was George sagen würde, wenn er sie hier sehen könnte, tränenüberströmt und schwarz gekleidet am Grab eines Rivalen, der seit fünf Jahren unter der Erde lag.
Wir verabschiedeten uns mit einer unbeholfenen Umarmung, und ich versprach ihr, zu schweigen. Allerdings machte ich mir Sorgen. Mehr als das, ich hatte Angst. Sie war eine Ritzerin, so voller Schmerz, dass ihr eigenes Blut nötig war, um ihn wegzuwaschen.
Wie mochte sich das abspielen? Ein Schnitt pro Stunde? Zwei am Tag? Oder gab es da kein Muster, sondern nur einen raschen Schnitt mit der Klinge, wenn das Leben wieder sein hässliches Haupt erhob? Miriam war schwach und zerbrechlich und konnte so leicht fallen wie jedes Blütenblatt an den Rosen, die sie auf das Grab gelegt hatte. Ich bezweifelte, dass sie die Kraft hatte, dieses Problem zu bekämpfen, und ich fragte mich, ob Janice wirklich hinreichend engagiert war. Sie hatte es vor meinem Vater verheimlicht. Um Miriam zu schützen — oder aus einem anderen Grund? Ich stellte mir noch eine Frage, denn ich musste sie stellen.
Konnte ich mein Schweigeversprechen halten?
Als ich sie verließ und wegfuhr, verspürte ich den überwältigenden Drang, Grace zu sehen. Es war kein bewusster Gedanke, sondern ein Gefühl. Die beiden waren so verschieden. Sie waren in derselben Umgebung aufgewachsen, erzogen von zwei Männern, die Brüder hätten sein können, und doch hätten sie gegensätzlicher nicht sein können. Miriam war kühl und still wie ein Märzregen, und Grace hatte die rohe Kraft der Augusthitze.
Aber ich entschied mich gegen einen Besuch im Krankenhaus. Es gab zu viel zu tun. Also fuhr ich daran vorbei. Ich parkte auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude von Rowan County und nahm die Treppe in den ersten Stock. Grantham glaubte ein Motiv gefunden zu haben. Das musste ich mir genauer ansehen.
Zur Grundsteuerbehörde ging es nach rechts.
Durch eine Glastür trat ich ein. Eine lange Theke verlief quer durch den Empfangsraum; sieben Frauen saßen dahinter. Keine von ihnen schenkte mir die geringste Beachtung, als ich die riesige Landkarte von Rowan County studierte, die an der Wand hing. Ich fand den Yadkin River und fuhr mit dem Finger darauf entlang, bis ich die lange Kurve erreichte, die die Red Watet Farm umschloss. Ich notierte mir die Referenznummer, ging dahin, wo die kleineren Karten aufbewahrt wurden, und zog mir die heraus, die ich brauchte. Ich breitete sie auf einem der großen Tische aus. Ich erwartete ein einzelnes, 572. Hektar großes Grundstück mit dem Namen meines Vaters zu sehen. Aber das sah ich nicht.
Die Farm war auf der Karte umrissen: Jacob Alan Chase Familienpartnerschaft. 491 Hektar.
Das südliche Ende des Geländes war abgeschnitten, ein unregelmäßiges Dreieck, zur einen Seite von der lang gezogenen Flussbiegung begrenzt. Adolfus Boone Shepherd. 8o Hektar.
Robin hatte recht. Dolf besaß achtzig Hektar und das Haus. Sechs Millionen Dollar, hatte sie gesagt, auf der Grundlage des letzten Angebots.
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Ich schrieb die Nummer des Grundbuchs und der entsprechenden Seite auf einen Zettel und schob die Karte wieder ins Regal. Dann ging ich zur Theke und sprach eine der Frauen an, eine rundliche Frau mittleren Alters. Eine dicke blaue Puderschicht füllte die Höhlung unter ihren Augenbrauen. »Ich möchte den Grundbucheintrag für diese Parzelle sehen«, sagte ich und legte meinen Zettel zwischen uns auf die Theke. Sie machte sich nicht mal die Mühe, einen Blick darauf zu werfen.
»Da müssen Sie in die Grundbuchabteilung gehen, Herzchen«, sagte sie.
Ich dankte ihr, ging in die Grundbuchabteilung und wandte mich an eine andere Frau hinter einer anderen Theke. Ich gab ihr die Zahlen und sagte ihr, was ich wollte. Sie wies mich ans Ende der Theke. »Da unten«, sagte sie. »Es dauert einen Moment.«
Als sie zurückkam, hatte sie ein großes Buch unter dem Arm. Sie warf es auf die Theke, schob einen dicken Finger zwischen die Seiten und klappte es
Weitere Kostenlose Bücher