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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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schrumpfte fast zu einem Nichts zusammen. »Achtzehn Tage stationäre Behandlung«, sagte sie. »In einer Klinik in Colorado. Es ist angeblich die beste.«
    »Und Dad weiß es nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss das in Ordnung bringen. Ich und Mom. Wenn Dad davon wüsste, wäre es nur noch schwerer.«
    »Aber er sollte eingeweiht sein, Miriam. Ich weiß nicht, wie es irgendjemandem helfen soll, dass du es verbirgst.«
    Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Ich will nicht, dass er es erfährt.«
    »Warum nicht?«
    »Er denkt sowieso, dass mit mir etwas nicht stimmt.«
    »Nein, das ist nicht wahr.«
    »Er findet, ich bin überspannt.« Sie hatte recht. Dieses Wort hatte er benutzt. Ich stellte die größte Frage von allen, obwohl ich wusste, dass es keine einfache Antwort darauf gab. »Warum, Miriam?«
    »Es nimmt den Schmerz weg.« Ich wollte es verstehen. »Welchen Schmerz?« Sie schaute den Grabstein an, und ihre Finger liebkosten die harten Kanten von Gray Wilsons Namen. »Ich habe ihn wirklich geliebt«, sagte sie. Darauf war ich nicht vorbereitet. »Ist das dein Ernst?«
    »Es war ein Geheimnis.«
    »Ich dachte, ihr wart nur Freunde. Das dachten alle.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben uns geliebt.« Mein Mund stand offen. »Er wollte mich heiraten.«

ZWEIUNDZWANZIG
    M iriam war nie so gewesen, wie sie nach Ansicht meines Vaters sein sollte; in diesem Punkt hatte sie recht. Sie war auf eine blasse, gedämpfte Art schön, aber manchmal so zurückhaltend, dass man ihre Anwesenheit in einem Zimmer leicht übersah. So war sie schon von Anfang an gewesen: empfindsam und klein, ein Schattengewächs. Vielleicht waren wir übrigen zu extrovertiert. Vielleicht war ihre Mutter nicht die Einzige, die Miriam unterdrückt hatte, vielleicht hatten wir es gemeinsam getan, unabsichtlich, aber grausam wirkungsvoll. Und ich wusste, wie Schwäche im Laufe der Zeit wachsen konnte. Als sie zwölf war, waren ein paar Mädchen in der Schule hässlich zu ihr gewesen. Wir hatten nie erfahren, was sich da abgespielt hatte, aber ich hatte immer vermutet, dass es einfach etwas für Mädchen in diesem Alter Typisches gewesen war. Worin die Kränkung auch bestanden haben mochte, Miriam hatte drei Wochen lang mit niemandem gesprochen. Mein Vater hatte sich anfangs geduldig gezeigt, doch seine Frustration hatte zugenommen. Gegen Ende gab es eine Explosion; seine harten Worte waren nicht leicht zu vergessen. Sie war weinend aus dem Zimmer geflüchtet, und als er sich noch am selben Abend entschuldigt hatte, war nichts mehr zu retten gewesen.
    Er hatte schreckliche Gewissensbisse gehabt, aber der Umgang mit Frauen war nie seine Stärke gewesen. Er war bärbeißig, und wenn er überhaupt etwas sagte, dann das, was er dachte. Für Zartgefühl war in diesem Mann kein Platz. Miriam war zu jung, um das zu verstehen. Im Laufe der Jahre zog sie sich immer weiter zurück; sie baute die Mauer um sich herum höher und höher und verbrannte die Erde davor. Ihrer Mutter vertraute sie sich an, Jamie vielleicht auch, aber nicht meinem Vater, und ganz sicher nicht mir. Es war eine Traurigkeit, die klein begonnen hatte und immer weiter wuchs, bis wir sie kaum noch bemerkten.
    Miriam war einfach still. So war sie eben.
    Die Beziehung zu Gray Wilson musste für sie so kostbar gewesen sein wie die Erinnerung an den Sonnenuntergang für einen Blinden. Ich konnte verstehen, weshalb sie etwas für den Jungen übriggehabt hatte; er war redselig und frech gewesen, all das, was sie nicht war. Und ich konnte zumindest vermuten, warum sie es geheim gehalten hatten: Mein Vater wäre nicht einverstanden gewesen, und Jamie auch nicht. Miriam war gerade achtzehn geworden, als Gray ermordet wurde. Sie sollte ihr Studium in Harvard anfangen, und er arbeitete seit drei Monaten in einer Lastwagenfabrik in einem Nachbarcounty. Aber ich konnte mir vorstellen, dass die beiden zusammenpassten. Er war entspannt, liebenswürdig und auf eine grobknochige Art gut aussehend. Und was man über Gegensätze sagte, konnte ja stimmen. Er war groß und grob und arm, und sie war klein und zart und würde eines Tages sehr reich sein.
    Eine Schande, dachte ich, eine von vielen.
    Bevor ich den Friedhof verließ, fragte ich Miriam, ob ich bleiben sollte, aber sie verneinte. Manchmal möchte ich einfach mit ihm allein sein, weißt du. Allein mit den Erinnerungen.
    Keiner von uns beiden erwähnte George Tallman, aber es gab ihn: groß und real und todlangweilig. George war in Miriam

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