Der dunkle Kuss der Sterne
Juniper dirigierte das Boot im Bogen um ein Klippenfeld. Mein Magen rebellierte bei dem Geschaukel, aber tatsächlich kamen abgeschrägte Felsen in Sicht, die Juniper seitwärts ansteuerte. Amad holte den Käfig herunter, ließ die Graue frei und warf sie über den schwankenden Wasserspalt auf eine muschelpockige Schräge. Dann sprang er selbst.
Ich zögerte. »Schnell, Canda!«, drängte Juniper. »Ich muss weg vom Stein!« Es stank nach verbranntem Benzin, der Motor röhrte, als sie das Boot in der Strömung so auf Linie hielt, dass es für kurze Zeit auf der Stelle stand. Es blieb keine Zeit für einen Abschied, nicht einmal für Angst. Nur für einige Sekunden trafen sich unsere Blicke, dann verzog Juniper den Mund zu einem Lächeln, in dem alles lag: unser Abschied, der vielleicht endgültig war, ihre Furcht um mich und ihre Zuneigung, die mir das Herz schwer machte. Sie fehlte mir jetzt schon so sehr, dass es schmerzte.
»Worauf wartet ihr!«, rief Amad.
Ich riss mich los und nahm Anlauf. Das Wippen der nächsten Welle katapultierte mich in die Luft. Ich werde mir alle Knochen brechen . Aber ich landete in Amads Armen. Wir fielen beide auf den Felsen, der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen. Muscheln knackten unter mir, aber die Haihaut schützte mich.
Das Boot drehte schwerfällig eine schäumende Kurve und kämpfte sich gegen die Strömung aufs offene Meer. Von Weitem winkte uns Juniper ein letztes Mal zu, dann nahm sie Kurs auf Tibris. Wir blieben zurück in diesem Skulpturengarten des Todes. Amad schulterte den Rucksack. Mit einem geschmeidigen Satz landete er auf dem nächsten Felsen und zerrte ein schwarzes Totenboot herunter. Ich fürchtete schon, Knochen darin zu entdecken, aber es war leer. Es bot genug Platz für die Graue und das Gepäck. »Wir müssen die Strömung nutzen. Halte dich daran fest und lass dich ziehen«, befahl Amad mir. »Wenn du auf Felsen triffst, stütz dich ab und laufe, wenn du kannst!«
Im selben Moment überspülte schon eine Woge den Stein und nahm das Boot und uns mit. Ich weiß nicht, wie oft ich fluchte, weil ich gegen den Bootsrumpf stieß und mir die Schienbeine an Felsen aufschürfte. Aber der wahnwitzige Plan funktionierte. Wir drifteten von Felsen zu Felsen, in immer flacheres Wasser, und irgendwann schleppte ich mich an einen sandigen Strand, der mit schwarzen Wellenmustern aus Aschebändern gezeichnet war. Keuchend blieb ich liegen. Raben landeten in der Nähe, hüpften neugierig auf mich zu und flüchteten krächzend, als ich mich regte. Die Graue schüttelte sich, warf einen Schleier aus Tropfen von sich und jagte den Vögeln hinterher.
Benommen betrachtete ich meine Hände. Ich spürte sie nicht mehr, meine Fingernägel waren blau, aber als ich den Aschesand berührte, durchzuckte es mich wie eine heiße Welle. Es war ein Wiedererkennen mit jeder Faser meines Seins. Ich kannte die Felsen, die Buchten, diesen Himmel. Nein, nicht ich, meine Geschwister kennen sie. Und meine Schwester Glanz schien so nah, dass ich den Kopf hochriss. Aber sie war nicht hier, stattdessen entdeckte ich ein Dutzend bewaffneter Männer. Am Ende der Bucht trieben sie eine Kolonne schwankender Gestalten vorwärts. Bei den Sklavenhändlern in Tibris hatte ich es für Zufall gehalten, dass die Uniformen an die Gefängnisgarde aus Ghan erinnerten, aber hier war es eindeutig: Die Männer trugen Uniformen unserer bewaffneten Kräfte. Jenseits der Grenzen unseres Einflussgebietes? Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass die Uniformen zusammengeflickt waren und schlecht saßen. »Söldnersoldaten, die die Verbannten einsammeln«, flüsterte Amad. »Jedenfalls die, die hier angeschwemmt wurden. Eine Patrouille sucht sicher noch die Flüchtenden. Das Dornenschiff muss ganz in der Nähe gestrandet sein.«
»Wo ist die Graue hin?«, flüsterte ich.
»Zwischen die Felsen gelaufen, weg von der Kolonne. Sie findet uns wieder, keine Sorge.«
Ein Schuss ließ mich zusammenzucken, Splitter des Totenbootes flogen mir um die Ohren. Einer der Söldner war stehen geblieben und zielte mit einem Gewehr auf uns. Amads Hand lag auf meinem Rücken und drückte mich in den Sand. »Zurück in unser Element, Haimädchen«, sagte er völlig ruhig. »Sie suchen keine Fische, nur menschliches Strandgut, das jedem gehört.«
Ich robbte zurück, so schnell ich konnte. Der Söldner feuerte noch einmal. Eine Wasserfontäne spritzte neben Amad auf. »Hör auf, die Fische zu belästigen, Blindauge!«
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