Der dunkle Kuss der Sterne
warum hat sie mich mit dem Verräter durch die Wüste und über das Meer verfolgt? Um auch noch die anderen aufzuspüren!« Sie lachte ein verzweifeltes Lachen, und selbst dabei strahlte sie in solcher Schönheit, dass ich kurz die Augen schließen musste. »Aber du wirst sie nicht finden, Moreno! Sie sind nicht mehr hier. Und dieses Tor ist zerstört. Pech für euch!« Es klang so enttäuscht und verzweifelt, dass es mir ins Herz schnitt.
»Es gibt also andere von euch, die nicht in Ghan gefangen sind?«, flüsterte ich. »Und die Glasblume … war das Tor zu eurer Wirklichkeit?« Es war Meon, der mich vor ihrer Mordlust rettete. Ein Stoß traf mich gegen die Schulter und schleuderte mich zur Seite, ein scharfer Lufthauch strich an meiner Kehle vorbei, aber die Klinge verfehlte mich. Dann taumelte meine Schwester zurück, das Sichelschwert nur noch in der unverletzten Hand. Sie war entkräfteter, als sie wirkte. Ich rappelte mich auf und kam zitternd auf die Beine, atemlos vor Schreck, mein Herz ein einziger rasender Wirbel. Aber Meon hatte sich schützend vor mich gestellt, meinen Stock wie eine Waffe in beiden Händen.
»Bevor du sie tötest, musst du mich töten«, sagte er bedrohlich ruhig. »Und ja, ich stehe auf ihrer Seite. Sie sucht die Wahrheit, und in dieser Welt ist sie die einzige Verbündete, die uns jetzt noch bleibt.«
Ein Schluchzen stieg in Kallas auf, als sie seinem Blick auf die zerstörte Glaswand folgte. Meon senkte den Kopf, in seiner Haltung all die Enttäuschung, die Kallas hinausweinte. »Wir sind immer noch gefangen«, stellte er nüchtern fest.
Irgendwo aus dem Labyrinth des Palasts drangen donnernde Schläge zu uns hoch. Die Soldaten versuchten immer noch, in das Gebäude einzudringen. Mit zitternden Fingern tastete ich in der Köchertasche nach der Smaragdscheibe. Sie glitt in meine Hand, mit einem anderen kleinen Gegenstand.
»Ihr habt unter Menschen gelebt?«, fragte ich Kallas. »Hier und in den Bergen auch? Ich dachte, das Fresko in der Bergkirche würde eine meiner Ahninnen darstellen, die dir zufällig ähnlich sieht, aber das Bild zeigt dich, nicht wahr?«
Kallas hob in trotzigem Stolz das Kinn. »Ihr habt uns viele Tempel gebaut. Paläste aus Stein, in denen wir lebten, wenn wir bei euch zu Gast waren. Niemand ahnte, dass ihr uns damit nur so weit wie möglich in die Wüste locken wolltet! In die neue Stadt, die ihr mit unserem Wissen erbaut habt.«
Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Irgendetwas passte nicht zusammen. Ein Detail auf dem Wandbild in der Bergkirche.
»Wenn man euch für Götter hielt … warum trägst du auf dem Fresko das Zeichen der Traumdeuter?«
Kallas schnaubte verächtlich. »Wie kommst du darauf, dass es ein Traumdeuterzeichen ist?« Sie schob den linken Ärmel zurück und zeigte mir ihren Arm. Die Tätowierung leuchtete auf. Es war tatsächlich dasselbe Zeichen, das auch Amad trug. Jetzt verstand ich gar nichts mehr. »Unsere Freundschaft mit den fünf Menschen war ein Geschenk!«, schleuderte Kallas mir entgegen. »Einige von uns trugen die Wüstenblume eurer neuen Stadt als Zeichen unserer Verbindung. Und nicht nur das: Wir schenkten den Fünf die blauen Wege und machten sie damit zu Eno , den Wanderern. Nur sie konnten so die More durchschreiten und zu uns kommen, nicht nur im Traum.«
»More? Das sind … in eurer Sprache …«
Meon nickte. »Die Seelenhäute der Welt. Sie trennen Wirklichkeiten und Sphären, sie geben die Ordnung vor, die niemals zerstört werden darf.«
Mir klappte der Mund auf. More-Eno?
» Hautwanderer ?«, rief ich. »Das bedeutet mein Name?«
»Was sonst?«, erwiderte Kallas kalt. »In deinen Adern fließt das Blut der schlimmsten Verräterin. Tana Blauhand. Und vier andere, die ebenfalls Traumdeuter für ihre Völker waren, setzten alles daran, mit uns zu sprechen. Erst in Träumen, dann im Wachen. Meda ging darauf ein und zeigte sich ihnen. Sie schloss Freundschaft mit den Traumdeutern, sie hat ihnen vertraut. So sehr, dass wir für einige Zeit in eurer Welt Gestalt annahmen. Und als Dank habt ihr uns betrogen.«
Längst hatte ich das Gefühl, außerhalb meines Körpers zu stehen. Langsam, ganz langsam fanden sich die Splitter zu Fragmenten eines Bildes zusammen. Ein Schreckensbild, das ich am liebsten niemals gesehen hätte. Fünf Traumdeuter, fünf Völker, fünf Familien Ghans. Nur meine Familie trägt noch den Namen aus alter Zeit, den das Medasvolk einst den fünf Traumdeutern gegeben hat. Und Tana
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