Der dunkle Kuss der Sterne
zu öffnen. Auf der Handfläche, die von den Felsen im Fluss zerschnitten war, funkelte der Smaragd. Und daneben lag der Ring, heimlich zugesteckt als letzter Hinweis von jemandem, der ein Sklavenzeichen trug und wusste, dass wir uns nie wiedersehen würden.
»Medas Ring!«, rief Kallas. »Woher hast du ihn?«
Die Tränen, heiß wie Lavaströme, versengten meine vor Kälte taube Haut.
»Von Amad«, flüsterte ich. »Er ist kein Traumdeuter, er ist nicht einmal ein Mensch. Er war Medas Berater und er … gehört zu euch.«
Kallas schüttelte den Kopf. »Er gehört nicht mehr zu uns. Er dient euren Herren! Damals schon und heute auch noch. Was glaubst du, weshalb er nicht in dem Zwischenreich, das ihr als unseren Kerker geschaffen habt, dahinsiechen muss, sondern sich wie einer von euch frei bewegen darf?«
Er ist nicht frei! , wollte ich schreien. Und er wollte euch retten!
»Was ist damals genau geschehen?«, brachte ich mühsam heraus.
Kallas presste die Lippen zusammen. Auch Meon schwieg und blickte in den Abendhimmel. »Ich erinnere mich kaum«, sagte er nach einer Weile.
» Ich erinnere mich«, sagte eine zaghafte, bange Stimme. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz, noch bevor ich herumwirbelte und ihn erkannte. Er lehnte am Rahmen einer Tür, blass und erschrocken, das helle Haar zerzaust. Bruder Erinnerung.
»Trinn!« Kallas stürzte an mir vorbei und umarmte ihn. Er ließ es zu, dass sie ihn an sich drückte, ihm zärtlich durch das Haar fuhr und seine Wangen mit Küssen bedeckte. Aber dann löste er behutsam und entschieden Kallas’ Umarmung. »Du hast mich zurückgelassen!«, sagte er vorwurfsvoll.
Kallas sah aus, als hätte er sie geohrfeigt. Aber sie redete sich nicht heraus. Sie nickte. »Ja, das habe ich. Es hat mir fast das Herz gebrochen. Ich konnte euch nicht erreichen. Es gelang uns nur, meine Fesseln zu lösen. Wir wollten Hilfe holen, aber sie haben die blauen Wege zu den Palästen verschlossen, und deshalb mussten wir den langen Menschenweg gehen. Und die Unseren …«
»… sind nach Hause zurückgekehrt«, schloss der Junge traurig. »Die wenigen, die damals fliehen konnten, sind nicht mehr hier.« Der Junge, der meine Gabe der Erinnerung gewesen war, blickte sich im Raum um. Er fand mich, und mein Herz blühte auf, als er mich tatsächlich anlächelte – trotz allem, aus vollem Herzen. Er kam auf mich zu, mit den schlaksigen Schritten, die noch ein wenig an die eines Kindes erinnerten. Direkt vor mir blieb er stehen; seine Augen waren ein goldenes Meer, in dem sich alles spiegelte – jede Sekunde meines Lebens, aber auch unzählige Momente fremder Existenzen.
»Sie ist mit der Garde und mit dem Verräter hergekommen«, warnte Kallas. »Sie will uns zurückschleppen!«
»Das will ich nicht! Ich …«
Weiter kam ich nicht. Glas barst unter einem Schuss, eine Kaskade von Splittern ergoss sich in den Raum. Die Wand neben einer der mittleren Türen war zersplittert.
»Zugriff!«, befahl jemand. Sekunden gefroren zu einer Abfolge von Blitzlichtmomenten. Kallas und Meon reagierten wie Spiegelbilder. Schnell wie Schatten huschten sie über das Glas. Ein Schlag fällte einen Soldaten noch halb im Sprung durch das Trümmerloch. Seine Pistole schlitterte über den Boden und ich packte sie und feuerte in den Spalt, trieb die anderen Soldaten zurück in die Deckung. Kallas starrte mich fassungslos an. Nun, vielleicht verstehst du jetzt, auf wessen Seite ich bin , dachte ich.
Meon deutete auf seiner Handfläche einen Schnitt an und wies zu einer Tür, weit weg vom Fenster. Ich verstand sofort, so gut kannte ich sein Wegedenken noch. Falsche Spur legen. Meon entsicherte die Waffe, die er dem toten Gardekommandanten abgenommen hatte. Ich rannte zu der Tür. Ein paar Tropfen Blut zeichneten den Weg, zur Sicherheit ergriff ich noch die Klinke aus schwarzem Horn. Dann zog ich die Ärmel meiner Jacke über die Hände und stürzte zurück in den Raum. Schüsse hallten. Dann war Trinn neben mir und dirigierte mich – zum Fenster! Zum Zögern blieb keine Zeit. Scherben trudelten in die neblige Tiefe, auf der die Kronen von Bäumen schwammen, ein Splitter riss mir ein Hosenbein auf, dann hangelte ich mich nach draußen, tastete mich mit zittrigen Knien weiter. Wie Fliegen, die an der Außenwand hingen, an Scharten geklammert, verharrten wir ohne einen Laut. Wir hörten die Soldaten in den Raum stürzen, ihren Streit, schwere Schritte, dann das Schlagen der Tür. »Weiter!«, flüsterte Meon.
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