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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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geworfen und starrte mit verschlossener Miene auf die Wüste hinaus. Vor dem flirrenden Sand erschien sein Profil wie ein Schattenriss. Mir fiel auf, dass er eine leicht gebogene Nase hatte, und seltsamerweise musste ich an einen Falken denken, der im eisernen Turm gefangen war.

Der Weg vom Konferenzraum zum Saal war eine schmale, steile Treppe, auf der höchstens zwei Personen nebeneinander Platz hatten. Wie durch ein Nadelöhr mussten sich die Ratsuchenden nach oben zwängen.
    »Wer war der Mann?«, fragte ich den Wächter.
    »Niemand von Bedeutung«, antwortete der knapp. Jetzt war mir erst recht unbehaglich zumute. Wenn jemand, der im Vorzimmer der Méganes saß, als unbedeutend bezeichnet wurde, konnte man sicher sein, dass es eine Lüge war. Immer noch hatte ich eine Gänsehaut und war verstört von der Begegnung.
    Um mich zu beruhigen, zählte ich die Stufen, schätzte ihren Abstand und berechnete ganz mechanisch die Höhe der Treppe. Die fünfzigste Stufe endete an einem nur brusthohen Durchgang aus Marmor. Jeder musste sich hier ducken, man betrat den Saal der Méganes zum Zeichen der Ergebenheit mit gebeugtem Nacken. Mein Schritt bekam einen Hall, die Luft wurde kühl. Der Duft von Lilien vertrieb die Erinnerung an den Wüstenhauch des Verrückten. Ich ging die vorgeschriebenen dreizehn Schritte mit gesenktem Kopf und blieb stehen.
    »Willkommen, Canda.« Es war die freundliche Stimme einer älteren Frau. Ich hob den Kopf. Manja und Oné saßen ganz vorne an einem hufeisenförmigen Steintisch – gegenüber von meinen Eltern. Ich hätte eine völlig Fremde sein können, so neutral blickte meine eigene Familie mir entgegen. Tians Verwandte zweiten Grades saßen im Hintergrund. Ich entdeckte seine beiden jüngeren Brüder, die in der Ritualnacht bei ihm gewesen waren. Sie hatten tiefe Ringe unter den Augen und wirkten trotz ihrer Bronzehaut heute so blass, dass die roten kultischen Zeichnungen auf ihrer Haut leuchteten wie Peitschenstriemen.
    Der Mégan und die Mégana erwarteten mich am Scheitelpunkt des Hufeisentisches. Aus der Ferne hatte ich das Herrscherpaar schon oft gesehen. Doch so nahe war ich ihnen noch nie gekommen. Die graue Beamtenkleidung ließ sie beide glanzlos und nüchtern erscheinen, zwei achtzigjährige Menschen mit verwitterten Gesichtern. Das weiße Haar unserer Herrscherin wurde mit einem Kupferreif straff nach hinten gehalten, ihre Haut war so hell gepudert, dass ihre braunen Augen schwarz wirkten. Der Mégan war ein sehniger, immer noch kräftiger Greis mit tiefen Furchen neben den Mundwinkeln. Er trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Tisch herum.
    »Höchste Mutter«, begrüßte ich die beiden tonlos. »Höchster Vater …«
    Ich wollte mich verbeugen, aber die Mégana gab mir nur einen Wink, und ich gehorchte und trat in die Mitte des Hufeisens.
    »Zeugin Moreno«, wandte sich die Mégana an meine Mutter. »Wie alt ist sie genau?«
    »Siebzehn Jahre und zehn Tage, Höchste Schwester. Wie Ihr wisst, sollte sie vorgestern mit Tian Labranako verbunden werden.«
    Der Mégan verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Soweit ich gehört habe, ist sie nicht so hässlich, dass sie ihr Gesicht verbergen müsste.«
    »Sie ist in Trauer, Höchster Bruder«, erwiderte Manja anstelle meiner Eltern. Die Miene meiner Mutter blieb völlig ausdruckslos, aber ich konnte mir denken, dass sie Manja am liebsten geohrfeigt hätte. Und auch mir wurde heiß. Manja wollte mich nur schützen, aber natürlich bewirkte sie damit das Gegenteil. Jeder wusste, dass der Mégan wie ein Jagdhund war. Beim geringsten Hauch eines Verdachts nahm er die Fährte auf. Und meine klanglose Stimme hatte ihn sicher ohnehin schon neugierig gemacht.
    »Hier ist kein Ort für Trauerschleier. Nimm ihn ab, Mädchen.«
    »Höchster Bruder!« Selten hatte meine Mutter so freundlich und so verbindlich gewirkt. »Bitte erinnere dich an unser Gesuch von heute Morgen, dem ihr beide stattgegeben habt. Bis wir allein mit euch über die … die Erkrankung unserer Tochter sprechen können, bitten wir nochmals um strengste Vertraulichkeit. Das habt ihr uns zugesichert, als ihr uns und Canda als Zeugen geladen habt.«
    So verschieden die Herrscher in ihrem Wesen und Temperament waren, ihr absoluter Gleichklang war so deutlich spürbar wie die Schwingung einer Gitarrensaite an der Fingerkuppe. In einer Sekunde hatten sie sich entschlossen.
    »Geh, Mädchen«, sagte die Mégana freundlich zu mir. »Warte im Konferenzsaal. Wir

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