Der dunkle Kuss der Sterne
von dem ich nicht wusste, ob es Wut oder Angst war. Jetzt, im vollen Licht, konnte ich ihn genau betrachten. Anib, die eine Schwäche für gefährlich wirkende Männer hatte, hätte er vermutlich trotz seiner Hässlichkeit gefallen. Seine Züge waren klar, die Lippen hatten einen harten Schwung. Das glatte Haar fiel ihm seitlich über die Stirn und warf einen Schatten über die rechte Gesichtshälfte. Noch nie hatte ich solches Haar gesehen: aschbraune Strähnen neben schwarzen und rötlichen, und sogar ein paar hellere mischten sich darunter. Immer noch suchte ich fieberhaft nach Anhaltspunkten, ob er vielleicht doch zu einem höheren Stand gehörte. Aber er trug die Kleidung eines Niederen: ein schmuckloses schwarzes Hemd ohne Knöpfe, am Hals nur mit einer Lederschnur gebunden. Die Ärmel hatte er nachlässig bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Sand hing in einer Falte. Ein breites Lederband lag um sein linkes Handgelenk. Er dachte offenbar nicht daran, die Kratzer zu verbergen, die seine Arme verunstalteten. Kratzer wie von … Tierkrallen?
»Findest du es höflich, so mit einer Moreno zu sprechen?«, brach ich die unbehagliche Stille.
»Bist du denn noch eine Moreno? Du scheinst das Wichtigste, was du hattest, verloren zu haben. Und damit meine ich nicht den Kerl, dem du versprochen warst.«
»Erstens: Ich bin ihm versprochen! Und zweitens: Pass auf, wie du ihn nennst. Du weißt wohl nicht, wie man sich vor Hohen benimmt.«
Sein Lächeln verschwand so schnell, wie eine Maske fiel. Er zwinkerte nicht, obwohl die Sonne ihm direkt in die Augen schien. Niemals hätte ich es zugegeben, aber inzwischen machte mir dieser Blick Angst. Einen Moment hatte ich den Eindruck, er könnte durch meinen Schleier sehen wie durch Glas, aber das war natürlich unmöglich.
»Man könnte denken, du hast andere Sorgen als gutes Benehmen«, sagte er. »Es heißt doch, Liebenden bricht das Herz, wenn sie einander verlieren.«
Ich hasste mich selbst dafür, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Zum Glück verbarg mein Schleier sie.
»Wahre Liebe«, fuhr er unbarmherzig fort. »So selten in dieser Stadt, in der nur Gewinn und Bündnisse zählen. Und jetzt? Seid ihr zwei nur noch eine Schauergeschichte, die man Kindern flüsternd erzählt als Beispiel, wie schnell Schicksale zerbrechen können. Canda Moreno nur noch ein fadenscheiniger Schatten ihrer selbst – und ihr Geliebter …«
Er grinste. Doch diesmal beherrschte ich mich. Ich mochte nicht mehr ich selbst sein, aber eines erkannte ich immer noch: Er versuchte mich zu provozieren und in die Enge zu treiben. Aber den Gefallen, darauf zu reagieren, würde ich ihm nicht tun.
»Lass dich doch von deiner Versprochenen küssen«, erwiderte ich kühl. »Ihr scheint einander zu verdienen.«
Seine Augen wurden schmal, so konzentriert musterte er mich. Und plötzlich wusste ich, warum er mir bekannt vorkam. Es war nicht sein Aussehen – sondern nur die Art, wie er mich betrachtete. Dieser Blick, der sich irgendwo verlor, so, als würde der Fremde durch mich hindurchsehen, nach jemandem suchen, der hinter mir stand. Genauso wie Tian mich im Traum angesehen hat! Fast wartete ich darauf, dass dieser Fremde den Mund öffnen und mit Tians Stimme sagen würde: Wach auf, mein Stern …
Und noch etwas Seltsames geschah: Ein schmerzlicher Zug ließ seinen Mund plötzlich weicher wirken und in den Augen glomm nun eine Dunkelheit, die nichts Gefährliches mehr hatte. Im Gegenteil: Ich kannte sie nur zu gut. Heute Morgen erst hatte ich sie im Spiegel gesehen – es war Traurigkeit.
»Was … siehst du?« Die Frage rutschte mir einfach so heraus. Und eigentlich dachte ich: Was hat Tian gesehen?
Der Fremde blinzelte zum ersten Mal. Sein Blick verlor das Suchende, Entrückte, er trat beiläufig einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. »Was ich sehe, hm? Dein schwarzes Herz, Prinzessin.«
»Wovon redest du?«
»Von Menschen, die sogar die Sterne selbst vom Himmel holen und sie in den Staub treten würden für ein wenig Macht. Menschen wie du.« Ich erschrak über den blanken Hass in seiner Miene. Er ist verrückt . Ich stehe hier mit einem Verrückten, der mich hasst und wirres Zeug redet .
»Canda Moreno?« Ein Wächter hatte die Tür geöffnet. Und ich zögerte keinen Moment. Mein Schleier bauschte sich, als ich an dem Fremden vorbeilief und zur Tür floh. Erst an der Treppe warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Der Junge hatte sich wieder in einen Sessel
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