Der dunkle Kuss der Sterne
entscheiden später, ob wir deine Aussage noch brauchen.«
Meine Eltern konnten ihre Erleichterung kaum verbergen. Aber ich rührte mich nicht. Wenn ich gehorchte, hatte ich keine Chance mehr, Einfluss zu nehmen. Wie eine Spielfigur würde ich am Rand stehen und jede Entscheidung akzeptieren müssen, die andere für Tian und mich treffen würden.
Ich räusperte mich, und als ich endlich ein Wort herausbrachte, war es, als würde ich meinen Eltern hinterrücks ein Messer in den Rücken stoßen.
»Mit Verlaub, aber ich … möchte nicht gehen. Niemand steht Tian näher als ich. Auch meine Zukunft und die meiner Familie hängt davon ab, ob er gerettet werden kann. Ich muss hierbleiben, Höchste Herrscher.«
Der Mégan hob die linke Augenbraue. »Ich will jedem, der etwas zu diesem Fall zu sagen hat, ins Gesicht sehen.«
Meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf. Unter dem Schleier glühte mein Gesicht vor Scham, ich bekam kaum noch Luft. Meine Hände zitterten, als ich den Saum ergriff und das federleichte Grau nach hinten streifte. Es war schlimmer, als sich vor Fremden nackt auszuziehen. Entsetztes Flüstern wallte auf. Zumindest an diese Reaktion bin ich inzwischen gewöhnt, dachte ich bitter.
»Bevor ihr fragt: Sie ist es wirklich«, sagte meine Mutter. »Wir verbürgen uns dafür, dass dieses Mädchen unsere Tochter Canda ist. Auch wenn sie im Augenblick … verändert wirkt.«
Das Flüstern verstummte abrupt, vermutlich auf ein Zeichen der Herrscher. Als ich endlich wagte, den Kopf wieder zu heben, blickte ich in angewiderte und erschrockene Mienen. All diese Menschen hatten mich vor zwei Tagen noch lachend begrüßt, umarmt, mich Schwester, Tochter und Freundin genannt.
Vater starrte demonstrativ an mir vorbei. Für die Schande, die ich ihm nun zufügte, würde er mich lange nicht mehr ansehen – vielleicht nie wieder.
»Du musst Tian wirklich sehr lieben«, bemerkte die Mégana sanft.
Um ein Haar wäre meine beherrschte Fassade zusammengebrochen. »Mehr als mein Leben, Höchste Mutter«, brachte ich mit erstickter Stimme heraus. »Ihr müsst ihn finden und retten, ich bitte Euch!«
Die Mégana lächelte, Fältchen tanzten um ihre Augen und ich begriff, dass ich zwar mein Strahlen verloren, aber eben ihr Herz gewonnen hatte.
»Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Und nun beantworte die Fragen für das Protokoll: Tian Labranako ist also dein Versprochener?«
»Seit Geburt an, Höchste Mutter. Und mehr als das: Er ist mein Freund, mein Geliebter, mein Vertrauter – er ist die zweite Hälfte meines Herzens.«
Ein Schreiber, der etwas abseits saß, begann mit einem Füller auf Papier zu kratzen.
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Am Abend, bevor wir uns zu unserer Zeremoniennacht verabschiedet haben.«
»Was hat er gesagt und getan?«, übernahm der Mégan das Wort. Es war der barsche Ton eines Verhörs. Mein Mund wurde auf der Stelle trocken. Aber der Teil von mir, der in Zahlen und Strategien dachte, begriff, was zu tun war. Die Mégana und der Mégan waren wie Feuer und Stein. Ich hatte das Wohlwollen des Feuers, jetzt musste ich zeigen, dass ich die nüchterne Faktensprache des Steins beherrschte.
»Er hat mich zum Abschied umarmt, Höchster Vater, vor der Tür des Prunkzimmers.«
»Benahm er sich anders als gewöhnlich?«
»Er schien nur etwas zerstreut zu sein. Ich schob es aber auf die bevorstehende Zeremonie. Er war schon seit einigen Tagen nachdenklicher als sonst. Vielleicht … wusste er bereits, dass er in Gefahr war.«
»Warum hast du nicht sofort mit deinen Eltern über diesen Verdacht gesprochen?«
»Es war kein Verdacht, mir wird der mögliche Zusammenhang erst jetzt bewusst, im Rückblick.«
Der Mégan schnaubte spöttisch. »Du hast also nicht gespürt, woran er in den vergangenen Tagen dachte? Und du hast die Stirn, hier zu behaupten, dass ihr zwei Teile eines Herzens seid? Wie kann das sein, wenn du nicht einmal seine einfachsten Gefühle teilst?« Das Schlimme war, dass er recht hatte. Ja, ich hatte versagt, ich hätte spüren müssen, dass mein Geliebter Angst hatte. Jetzt musste ich doch die aufsteigenden Tränen unterdrücken.
»Es ist nicht Candas Schuld, höchster Bruder«, warf meine Mutter ein. »Tian hat sich ihr mit Absicht verschlossen.«
»Das sind Unterstellungen!«, rief Oné. »Vergiss nicht, du bist heute als Zeugin hier, nicht als Richterin, Isané!«
»Stattgegeben«, sagte der Mégan trocken. »Was genau hat er zum Abschied
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