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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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einem Wort, einem Versprechen, einer Strategie, einem Handel. Und manchmal mit einem Lächeln. Wenn es sein muss, verbindet sie Feuer und Wasser zu einem Schwert, das ihre Feinde tötet.
    Vor einer bronzefarbenen Flügeltür, die ich nur zu gut kannte, blieben meine Eltern stehen. Schweigend warteten wir, bis sich die Flügeltüren öffneten. Ich machte mich darauf gefasst, einen Raum voller Menschen zu sehen – Diener höheren Ranges und Sekretäre des Mégan-Paares, Advokaten in grauen Anzügen, weitere Wächter, vielleicht sogar Tians Familie. Aber zu meiner Überraschung war der Konferenzraum leer. Allerdings musste vor Kurzem noch jemand hier gewesen sein, Papiere lagen auf dem Kupfertisch, einige Ledersessel mit den hohen Lehnen waren zu den Fenstern gedreht, als wären gerade erst Leute aufgestanden und hinausgegangen. Über dem Kopfende des Tisches hing das Wappen der Stadt, ein Schild mit den verschlungenen Symbolen für das »Zentrum«, die fünf Höchsten Familien der Stadt: unser Augenstern; die Schlange der Labranakos; die Doppelaxt der Kanas; das blaue Pferd der Telemor und die Lilie der Siman. Eingefasst waren die fünf Symbole von dem Zeichen der fünfundzwanzig Familien des nächsten Rings. Und diese wiederum vom Ring der Nächstniederen. Von ihnen kannte ich nur die wenigsten Namen, Mitglieder des ersten und des dritten Rings hatten, wenn überhaupt, nur beruflich miteinander zu tun – gewöhnlich als Herren und Handlanger.
    »Gerade findet noch die Anhörung der Zeugen zu Tians Fall statt«, sagte meine Mutter. »Wir gehen voraus. Du wartest hier, bis du hereingerufen wirst.«
    Tians Fall , dachte ich benommen. Gestern hätte sie es noch unseren Fall genannt.
    Meine Mutter zupfte mein hellgraues Zeremonienkleid zurecht. Es war bodenlang, schmal geschnitten und saß makellos. Die Schnitte von den Scherben an meinen Händen waren unter schwarzen Seidenhandschuhen verborgen.
    »Mach deine Aussage, wie wir es besprochen haben, aber sag nichts über deine Träume«, raunte sie mir so leise ins Ohr, dass ich die Worte eher fühlte als hörte. Ich nickte benommen.
    Meine Eltern traten zur großen Verbindungstür, die zum ersten und größten Gerichtssaal unserer Herrscher führte. Etwas Seltsames geschah: Sie zögerten kurz und mein Vater berührte für einen Moment die Hand meiner Mutter. Sie reagierte nicht, aber an der Art, wie sie ihre Schultern straffte, erkannte ich, wie viel Mut es sie kostete, den nächsten Schritt zu tun und durch die Tür zu gehen. Dann war ich allein.
    Hier hatte ich noch vor zehn Tagen vor Glück gefiebert, bis endlich Tian mit seiner Familie gekommen war, um den Vertrag zu besiegeln. Für einen Augenblick bildete ich mir ein, meinen Geliebten wieder dort am Tisch sitzen zu sehen, vorgebeugt, das Haar im Licht der aufgehenden Sonne ein Kupferstrahlen in all dem Grau. Ich hätte sogar schwören können, den Duft seiner Haut wahrzunehmen. Er roch immer ein wenig nach Meer – beziehungsweise so, wie das Meer in Büchern beschrieben wurde –, nach Salz und Frische, nach lauer Sommerluft und Wolken. Ich erinnerte mich an sein nervöses Lächeln, während er unterschrieb.
    Ich ging um den Tisch herum zum Fenster. Dort schlug ich den dunkelgrauen Schleier zurück und blinzelte in die plötzlich gleißend helle Weite. Unsere Stadt hatte den Grundriss eines Kreises. Wie Jahresringe trennten Stadtmauern die einzelnen Bezirke und bildeten gleichzeitig ein Bollwerk um den innersten Kreis, das Zentrum mit den höchsten und sichersten Türmen. Und auch die Nähe zum Himmel bestimmte über Rang und Namen. Die höchsten Würdenträger lebten näher an den Sternen als die Handlanger, selbst wenn diese aus denselben Familien stammten.
    Unbarmherzig flirrte die Wüste, bis sie am Horizont felsiger wurde und schließlich in ein ansteigendes Gebirge überging. Keine Straße durchschnitt das Gelb, nur die Wolkenschatten huschten über die scharfen Kanten der Dünen. In der Ferne kreisten ein paar Aasvögel und irgendwo in meinem Kopf hallte ein gemeines, fremdes Flüstern: Was, wenn er dort draußen liegt, hinter einer Düne, längst Futter für die Kreaturen? Ich wandte mich brüsk ab, lehnte mich gegen das Glas. Hinter mir die Unendlichkeit des Himmels und die Tiefe. Und für einen Augenblick lang wünschte ich mir, durch das Glas zu fallen wie durch eine Wasserwand, in den Abgrund, wo es keine Angst, keine Ungewissheit und keinen Schmerz gab. »Hör auf«, flüsterte ich mir selbst zu. Mit

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