Der dunkle Kuss der Sterne
mich dazu. Es schmeckte süß und gleichzeitig bitter – das Kräutergewürz darin war Zillawurzel.«
Der Mégan warf mir einen düsteren Blick zu. Aber auch so begann mein Herz schneller zu schlagen. Genauso hatte der Mitternachtswein geschmeckt.
»Dann kippte ich weg«, fuhr Jenn fort. »Als ich das nächste Mal wach wurde … lag ich in einem riesigen Bett in einem Palastzimmer. Meine Haare waren bis zu den Schultern abgeschnitten, jemand hatte mir rote Schlangen auf die Haut gemalt, und ein paar Wächter brüllten mich an. Das ist alles, was ich weiß, ich schwöre es bei den Geistern meiner Ahnen und dem Blut meiner Mutter.«
Manja sackte auf den Stuhl, als hätte sie einen Hieb erhalten. Oné setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Nun, damit sind die Beweise für Tians Schuld so gut wie vollständig«, sagte die Mégana.
Ich hörte die Worte, aber ich brauchte mehrere Sekunden, um wirklich zu begreifen. Sie verurteilten meinen Geliebten! Wie aus weiter Ferne hörte ich die trockene Stimme des Mégan, sah, wie Manja sich vergeblich bemühte, ihre Tränen zu verbergen, und die maskenhaft sachlichen Mienen meiner Eltern.
»… Tians Lehrer hat im Gefängnis die Zeichnungen auf der Haut des Gefangenen begutachtet und bestätigt, dass Tian sie ausgeführt hat. Und der Wein, den Canda Moreno Mitternachtswein nennt, war mit Bithrium versetzt, dem Gift der Felsviper. Tödlich in einer Wunde. Mit Wein oder Wasser vermischt und getrunken ist es ein Betäubungsmittel, sehr stark und in hoher Dosis sehr lange wirkend. Nimmt man zu viel davon, erwacht man erst nach zwei Tagen wieder. Tian brachte seine Brüder dazu, ihre Gläser in einem Zug zu leeren. Nur er trank keinen Schluck. Er wollte also sicher sein, dass niemand vor dem Mittag zu sich kommt. Und für den Fall, dass jemand im Prunkzimmer nach dem Rechten sieht, sorgte er mit sehr viel Sorgfalt dafür, dass sein Platzhalter so echt wie möglich wirkte. Tian Labranako hat Ghan ohne schriftliche Erlaubnis verlassen, was an sich schon strafbar ist. Die nächtlichen Gespräche über Navigation und ferne Länder, die er mit Canda Moreno auf dem Dach führte, deuten darauf hin, dass er seine Flucht schon länger plante. Darüber hinaus hat er die Verbindung mit seiner Versprochenen heimtückisch und vorsätzlich veruntreut. Eine harte Wahrheit für beide Familien. Und eine dunkle Stunde für unsere Stadt. Über die Höhe der Entschädigungszahlung an die Familie Moreno wird verhandelt werden, sobald alle Ansprüche erfasst und beziffert sind. Die Sitzung für die Labranakos ist für heute beendet.«
»Das ist alles nicht wahr!« Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden.
»Canda!«, zischte mein Vater. »Setz dich und schweig!«
Aber nichts und niemand hätte mich jetzt noch zum Schweigen gebracht. »Warum sollte Tian seine ganze Zukunft wegwerfen? Er wurde Opfer eines Verbrechens!«
»Das Opfer des Verbrechens bist du, Canda«, sagte die Mégana bedauernd. »Aber die Familie Labranako wird alles tun, um dieses Unrecht ihres Sohnes an dir wiedergutzumachen.«
»Wie könnt Ihr das glauben?«, rief ich Tians Eltern zu. »Kein Mensch mit Verstand würde die Stadt freiwillig verlassen. Und Tian hat unsere Verbindung nicht veruntreut. Eher würde er sterben. Ihr könnt Euren Sohn nicht im Stich lassen!«
»Wir haben nur zwei Söhne«, erwiderte Oné mit gebrochener Stimme. »Einst hatten wir einen dritten. Aber er hat beschlossen, uns in Schande zu verlassen. Und damit ist es, als hätte er nie gelebt. Weiter gibt es nichts zu sagen.«
Ketten klirrten, als Jenn fortgeschleppt wurde. Stuhlbeine kratzten über den Boden, teurer roter Stoff raschelte, polierte Lederschuhe scharrten eilig über Stein. Bisher hatte ich mich geborgen gefühlt in meiner Stadt, meiner Familie, mit all den Regeln, die mich einhüllten wie ein sicherer Kokon, aber jetzt hatte ich das Gefühl, unter Verrückten zu sein. Als sei ich ein Geist geworden, mieden Tians Verwandte meinen Anblick, während sie aus dem Raum hasteten. Sogar Manja ging in weitem Bogen um den Tisch herum, die geröteten Augen starr auf die Tür gerichtet, so als wollte sie möglichst viel Abstand zu mir halten. Innerhalb von zehn Sekunden waren meine Eltern und ich mit den Herrschern allein. Meine Schritte hallten überlaut in dem leeren Raum, als ich in das Hufeisenrund rannte. Direkt vor den Herrschern blieb ich stehen.
»Bitte, Höchste Eltern. Ich kenne ihn besser als jeder andere und
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