Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
mich mehr aus der Fassung brachte: Die Tatsache, dass ich im Traum den Kuss erwidert hatte – mit meinem ganzen Herzen – oder die Furcht, dass er mich trotz allem einholen könnte. In diesen Tagen verstand ich mich selbst nicht, also hörte ich auf zu schlafen, ich ruhte mich nur in kurzem Dämmerschlaf aus und hetzte weiter talabwärts. Ich hätte auch mit geschlossenen Augen wandern können, einer der Zweige, den ich ständig in der Faust hielt, schien mich wie eine Wünschelrute in Richtung Meer zu führen. Je tiefer ich ins Tal kam, desto öfter blieb ich staunend stehen, trank das ungewohnte Grün, die Farben von Blüten, die ich aus den Gewächshäusern nicht kannte, und sog den kühlen, fremden Duft nach Morgennebel und feuchten Blättern ein. Immer mehr Menschen begegneten mir, abgerissene Gestalten, die geflicktes Werkzeug mit sich schleppten. Wir wanderten an mit Brennnesseln gesäumten, rostigen Eisenbahngleisen entlang.
    »Auch unterwegs nach Tibris?«, rief mir ein Mann zu, alt und so verkrümmt wie eine lebende Wurzel, ächzend unter schwerem Gepäck. »Komm, lauf ein Stück mit mir!«
    »Du willst, dass ich dir tragen helfe?«
    Aber er winkte mit einer welken Hand ab. »Deine Gesellschaft hilft mir genug. Solange du mit dem Gewehr und dem Hund an meiner Seite läufst, traut sich keiner, mir mein Gepäck zu stehlen.«
    »Tut mir leid, ich habe es eilig, alter Mann.«
    Der Alte grinste listig. »Kannst du nicht rechnen? Die schnellste Art, von hier aus nach Tibris zu kommen, ist der Zug. Und der kommt nie vor Mitternacht. Ob du mit mir läufst oder Stunden an der Station wartest, kommt aufs Gleiche raus.«
    Ja, rechnen konnte ich. Und der Alte tat mir leid. Also ging ich zu ihm hinüber.
    »Kosta«, stellte er sich im Gehen vor. »Muschelputzer, seit sechzig Jahren schon. Ein Vermögen in Perlen ist in dieser Zeit durch meine Hände gegangen. Aber ich kann mir nicht mal ein Jahresquartier in Tibris leisten, also krieche ich einmal im Jahr aus dem Staubloch, in dem ich lebe. Tja, manche gewinnen, manche verlieren. Und du gehörst wohl zu denen, die gewinnen.« Er deutete auf mein Kurzgewehr. »Bist zum Menschenhafen unterwegs, stimmt’s?«
    Ich stutzte. Aus meinen Büchern kannte ich Tibris als Stadt der drei Häfen. Sie reihten sich wie Perlen einer Kette an der Küste auf: Perlenhafen, Handelshafen, Fanghafen. »Schon möglich«, antwortete ich.
    Kosta nickte zufrieden. »Du tarnst dich gut als Wanderarbeiterin, aber ich erkenne einen von euch, wenn ich ihn sehe. An der Haltung und am Blick. Aber keine Sorge, ich sage es keinem, wirst deinen Grund haben, nicht in eurer Tracht unterwegs zu sein. Du bist noch verdammt jung für das Geschäft, ich vermute, deine Familie verkauft schon seit Generationen Sklaven. Und du hast es von klein auf gelernt und sollst dir jetzt im größten Menschenhafen der Küste deinen ersten Rang verdienen, was?« Mein Schweigen deutete er als Zustimmung. »Wusst ich’s doch«, murmelte er und seufzte. »Naja, es ist dir nicht zu verübeln. Die einzige Art, noch wirklich zu Geld zu kommen. Die goldenen Zeiten der Welt sind längst vorbei, die Hunde streiten sich nur noch um die Reste. Wie heißt du, junge Herrin?«
    »Sklavenhändler nennen ihre Namen nie«, erwiderte ich vorsichtig. Ein rasselndes Lachen war die Antwort. »Ist auch schlauer. Nicht alle Ketten halten für immer.«
    In meinem Kopf sprangen die Gedanken durcheinander. Menschenhandel? In Tibris? Von einem vierten Hafen hatte ich nichts gelesen. War der Sklavenmarkt der Grund, warum Tian dorthin entführt wurde? Soll er über das Meer gebracht werden, in ein anderes Land, außerhalb der Reichweite von Ghan? ,dachte ich beunruhigt. Wie viel ist ein Labranako-Prinz wert? Und für wen?
    *
    Die Zugstation, die wir erst mitten in der Nacht erreichten, war ein vergilbtes flaches Gebäude, umlagert von Trauben von Menschen, die ihre Lager auf der Erde aufgeschlagen hatten. Rußige Feuer brannten überall, müde Augen begafften uns, als Kosta sich ächzend auf dem Boden niederließ. Auch mir tat jeder Knochen weh, die letzten paar Meilen hatte ich ihm so viel Gepäck abgenommen, wie ich tragen konnte. Ich hielt nach Juniper und den anderen Ausschau, fand sie aber nicht. Und seltsamerweise waren hier nur ältere oder alte Wanderarbeiter zu sehen, keine jungen Gesichter.
    Zeit zum Verschnaufen blieb nicht. Die Leute kamen in Bewegung, noch bevor ich das ferne Grollen und Rattern hörte. Feuer wurden hastig gelöscht,

Weitere Kostenlose Bücher