Der dunkle Kuss der Sterne
noch sehr jung«, murmelte sie. An meinen Händen hielt sie inne. Verwunderung spiegelte sich in ihren Zügen. Lange befühlte sie das blaue Stichmal auf meiner Handfläche.
»Du hast etwas verloren«, murmelte sie. »Und in der Sklavenstadt hoffst du es wiederzufinden. Sei vorsichtig, Sehnsucht kann dich verschlingen, deine Seele, alles, was du bist. Denn du kämpfst um ein Leben, das deines ist und doch nicht deins.« Und nach einer Pause, in der sie zu zögern schien, setzte sie hinzu: »Du bist nicht allein, ihr seid … drei.«
Neben mir konnte ich die Wächterschatten als kaltes Flackern wahrnehmen. Ich dachte, die vergangenen Tage hätten mich gelehrt, mich nicht mehr auf meine Welt zu verlassen, aber Manoas Worte schockierten mich dennoch, gaben mir das Gefühl, nackt und durchschaubar zu sein, als würde ich aus Glas bestehen. Zufall! , redete ich mir ein. Irgendein Schaustellertrick, den ich noch nicht durchschaue. Ich entzog ihr meine Hand. »Jeder Mensch hat irgendetwas verloren und sucht es. Was soll ich mit diesen Sätzen anfangen, Traumdeuterin?«
»Sag du es mir. Was erzählen deine Träume? Was siehst du, wenn du das Land der Schläfer durchwanderst?«
Sie schloss die Augen und wartete auf eine Antwort. Es war unheimlich, dass ihre blauen Lidzeichnungen mich anzustarren schienen.
Ich zögerte. In Gedanken sah ich meine strenge Richtermutter und Manja. Wenn sie mich sehen würden, hier, mit einer Frau, der ich Träume erzählte! Das allein hätte genügt, um Tians Familie daran zweifeln zu lassen, ob ich die richtige Braut für ihren Sohn war. Verstohlen sah ich mich um, aber die Leute auf dem Dach waren ein Stück abgerückt und kümmerten sich nicht um uns. Gespräche über Träume galten offenbar als etwas Privates.
Es kostete mich trotzdem Überwindung, Manoas Frage zu beantworten. »Von … Menschen«, begann ich. »Von einem schwarzhaarigen Mädchen mit Kirschlippen. Sie steht hinter Glas. Aber es ist dünn und biegsam. Es leuchtet blau, wenn ich dagegenschlage, aber es bricht nicht.«
Manoa verzog den Indigomund zu einem gelangweilten Lächeln. »Dafür brauchst du keine Traumdeuterin, das könnte dir jeder hier auf dem Dach erklären. Die blauen Grenzen, das sind die Seelenhäute der Welt, viele träumen von ihnen. Sie umgeben uns und alles, was ist. Sie können verletzt werden und Narben tragen, sie bergen oder trennen. Aber zerstören kann man sie nicht.«
Wie durchsichtige Mauern? , dachte ich unbehaglich. Ich hatte den Verdacht, dass Amad sehr gut wusste, wovon Manoa sprach.
»Und wer ist das Mädchen, das ich hinter dieser Haut gesehen habe?«
Manoa zuckte mit den Schultern. »Ein böser Geist vielleicht, der dich liebend gern verschlingen würde. Ein Dämon, der die Gestalt einer Ahnin angenommen hat, um dich anzulocken? Was auch immer es ist, es ist böse, aber es kann unsere Wirklichkeit nicht betreten. Niemand mit einem Herzschlag kann diese gläsernen Grenzen überschreiten, aber sie können auf andere Weise Schaden anrichten.«
»Das heißt aber, ich könnte mit dem Mädchen aus meinem Traum sprechen?«
Manoa beugte sich vor, griff erstaunlich zielsicher nach meiner Hand und drehte die Handfläche nach oben. »Wusste ich es doch«, sagte sie spöttisch. »Glaubst du, ich durchschaue dich nicht? Du versuchst mir ins Handwerk zu pfuschen, viele denken, sie könnten sich meinen Lohn sparen und selbst mit den Geistern reden, indem sie sich blaue Farbe in eine Wunde schmieren. Hat wohl nicht funktioniert.« Sie lachte rau auf und ließ meine Hand angewidert los. »Was hast du gehofft? Eine Verstorbene aus deiner Familie wiederzusehen und ihre letzte Botschaft zu hören? Oder glaubst du, deine Traumgestalt war ein guter Geist, der dir Reichtum schenkt oder die wahre Liebe? Nein, Dummkopf, Geister dulden nur einen in ihrer Nähe: mich. Dir rate ich: Wende den Blick ab, wenn du das nächste Mal von ihnen träumst. Und fasse niemals wieder im Traum eine Seelenhaut an, wenn dir dein Leben lieb ist.«
»Der Fleck, das war ein Unfall in einer Färberei. Ich pfusche niemandem ins Handwerk.«
»Ach ja? Und mit den Schatten aus der Jenseitswelt hast du nur zufällig zu tun?« Mit ihrem dicken Zeigefinger stach sie in die Luft, rechts und links von mir. »Die zwei Kerle in schwarzen Anzügen, die dir an den Hacken hängen, was willst du mit ihnen?«
Mir klappte der Mund auf. »Du siehst sie also wirklich?«
»Ich bin blind in dieser Wirklichkeit der Welt, aber ich sehe das, was
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