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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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bieten.«
    Nur das Rattern des Zuges durchbrach die Stille wie mechanisches Gekicher. Was sollte ich singen? Die Hymne unserer Stadt? Die Balladen von den fünf Familien und der Erbauung Ghans? Ich schüttelte wieder den Kopf.
    Die Stimmung schlug so deutlich um, als hätte uns ein kalter Wind gestreift. Die Leute waren still geworden, Reibeisenstimme musterte meine Waffe und den Rucksack, den ich nicht im Waggon zurücklassen wollte. Und auch ohne dass ich das Gezische der Wächterschatten hörte, wusste ich, was sie ihr einflüsterten. »Wer so unhöflich ist, der sollte zu Fuß gehen«, knurrte die Frau. Ich wollte zurückgehen, aber zwei Männer standen auf und versperrten mir den Rückweg. Der Boden raste unter uns dahin und direkt neben den Schienen ging es in die Tiefe. Niemals würde ich einen Sturz überleben. Ich überlegte, wie schnell ich nach dem Gewehr greifen konnte . Mit dem ich noch nie geschossen habe. Und was dann? Alle mit der Waffe in Schach halten, bis wir in Tibris sind?
    »Lasst sie«, meldete sich eine Alte zu Wort. Sie hockte abseits von den anderen, am hintersten Ende des Waggons. Der Bann der toten Wächter brach wie zerspringendes Glas. Die Leute blinzelten und rieben sich die Augen. Reibeisenstimme, die schon dabei gewesen war, aufzustehen, plumpste zurück und zog ihr Tuch enger um die Schultern, als würde sie frösteln.
    »Verstehst du keinen Spaß mehr, Manoa?«, knurrte ein Mann, bevor er sich wieder hinsetzte.
    Die Alte antwortete nicht. Sie war dick und wirkte auf den ersten Blick wie ein lebender Tuchballen, so üppig war sie mit einem dünnen grau glänzenden Stoff umwickelt. Über dem Stück Tuch, das Mund und Nase schützte, sahen indigoblaue, weit aufgerissene Augen mich bohrend und starr an. »Wer bist du, ich habe deine Stimme noch nie gehört.«
    Ich hoffte, niemand würde bemerken, wie erleichtert ich klang. »Smila.«
    Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Nach deinem Namen habe ich nicht gefragt. Komm her!«
    Kein Zweifel, wer hier auf dem Dach die Anführerin war. Die Leute rückten beiseite und machten mir eine schmale Schneise frei, durch die ich auf dem vibrierenden Untergrund zum Rand des Daches balancieren konnte. Sie befahl mir mit einem Nicken, mich vor sie zu setzen. Immer noch schlug mir das Herz bis zum Hals. »Danke, Manoa«, sagte ich leise. »Ich … singe wirklich so hässlich wie ein Pfau und habe keine Lust, ausgelacht zu werden.«
    Aber statt mir eine Antwort zu geben, streckte sie nur die Hände aus. Kostbare Ringe blitzten in der ersten Ahnung der Morgendämmerung auf. Ringe einer Mégana, nussgroße Rubine und ein Rosendiamant. Aber es wirkte, als würden die Juwelen eine Totenhand schmücken. Erst erschrak ich über die unzähligen blauen Adern auf graublauer Haut, aber dann erkannte ich, dass es Tätowierungen waren. Schichten um Schichten, die sich überlagerten; Muster, die sich durchdrangen und ergänzten. Ranken und Dornen, Wellen und Punkte und in manchen Mustern glaubte ich Fratzen zu sehen. Juniper hatte gesagt, Blau sei die Farbe der Traumdeuter. Offenbar wurden diese Leute für ihre Dienste gut bezahlt. »Du liest Träume?«, fragte ich.
    Die Alte zupfte das Tuch vor ihrem Gesicht herunter. Es war ein verstörender Anblick. Ihre wulstigen Lippen waren indigoblau, von der Nase bis über ihr ganzes Doppelkinn zogen sich die Ornamente.
    »Die Menschen haben doch keine richtigen Träume mehr«, antwortete sie abfällig. »Nur noch Hoffnungen und Wünsche, die zu Staub zerfallen, wenn das Tageslicht darauffällt. Niemand träumt mehr mit offenen Augen, nur die Toten auf den Schädelfeldern blicken noch in den Himmel auf der Suche nach dem Gedanken, der die Welt verändert. Aber wer bist du?«
    Ihre starren Augen rollten nach hinten und verschwanden. Zurück blieben matte silbrige Scheiben. Sie war blind. Das, was ich für blaue Augen gehalten hatte, waren nur Tätowierungen auf ihren Lidern. Ich war bestürzt, dass ich mich hatte täuschen lassen.
    »Lass dich mal ansehen, Fremde.«
    Ich hielt still, als sie mein Gesicht berührte. Ihre trockenen Finger waren rau wie Hundepfoten, strichen über meine Wangen, meine Stirn, die Lider. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass auch in ihren Handflächen Augen eintätowiert waren. Sie strich über mein Haar und an meinen Armen entlang. Unter den Tüchern klirrte schweres Gold von Armbändern. Ich fragte mich, warum eine so reiche Frau wie eine Arbeiterin in die Stadt fahren musste. »Du bist

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