Der dunkle Kuss der Sterne
Taschen und Säcke geschultert, alle kamen auf die Beine. Der Zug tauchte aus dem Dunkel auf wie eine zischende, weißen Rauch fauchende Schlange mit einem Dornenpanzer. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass diese Panzerstacheln die Silhouetten von Menschen waren. Sie hockten auf dem Dach des Waggons, hingen sogar an den Seiten. Gestank nach Schweiß und fettiger Kleidung schlug mir entgegen und vermischte sich mit dem ohrenbetäubenden Kreischen der Bremsen. Die Meute stürzte los. »Schläfst du, junge Herrin?«, krächzte Kosta und versetzte mir einen Stoß. »Der Zug wartet nicht.« Das Gefährt bremste nur ab und wurde langsamer, aber es hielt nicht an. Jetzt war ich im Vorteil, die Graue zu haben. Die Leute wichen ihr ängstlich aus und ich erkannte mich selbst nicht wieder, ich schob und kämpfte mit Knien und Ellenbogen, und dabei zerrte ich, so gut es ging, Kosta hinter mir her. Trotzdem schafften wir es erst beim letzten Waggon, zu den Gleisen zu gelangen. Ich riss Kosta das Gepäck aus den Armen und warf es hinauf, dann packte ich im Laufen die Graue und wuchtete sie nach oben. Kosta klammerte sich mit einer Hand an einem Waggonriegel fest, er schnaufte und keuchte, aber er stolperte nicht. »Nicht loslassen, ich helfe dir gleich«, rief ich im Laufen. Ich holte Schwung und sprang, erwischte den Rand der Ladeplattform und stemmte mich mit aller Kraft hoch. Leute schauten mir gelangweilt zu und rührten sich nicht. Erst als ich einen Fuß auf den Waggonboden bekam, streckten sich mir plötzlich Hände entgegen und zogen mich hinein. Offenbar teilte diese Schwelle die Menschen in »die da draußen« und »drinnen bei uns«. Ich kroch zur Öffnung zurück und packte Kostas dürren Arm. Und sobald ich ihn bis zum Rand hochgezerrt hatte, halfen auch ihm schwielige Hände auf die Plattform. Dann saßen wir Körper an Körper in dem vor Hitze wabernden Waggon. »Was für ein Glück, dass ich dich getroffen hab«, krächzte Kosta. »Aber bei allen Perlen des Meeres, das schaffe ich kein weiteres Jahr.«
Ich verstand schon bald, warum die meisten Menschen lieber auf dem Dach im Wind saßen. Trotz der offenen Tür war es im Waggon so heiß, dass das Atmen schwerfiel, nur Kosta schaffte es, an sein Gepäck gedrückt in der Ecke des Waggons tief und fest zu schlafen. »Wie lange fahren wir noch?«, fragte ich in die Runde.
»Sonn’aufgang«, gab jemand mürrisch zur Antwort.
Es gelang mir nicht, zu schlafen, zu sehr knirschte und rüttelte der Boden unter mir, als würde das morsche Holz jeden Moment durchbrechen. Im Dunkel des Waggons suchte mich nicht der Rabenmann heim, sondern ein anderer Albtraum: Amad, den ich schutzlos und unbewaffnet auf dem Fels zurückgelassen hatte. Ich versuchte, nicht an ihn zu denken, aber im Geiste verfolgte mich sein letzter Blick und ich fühlte mich elend und schuldig. Und noch etwas ließ mich nicht los, obwohl ich es niemals zugegeben hätte: seine Lippen auf meinen, kühl und doch wie Lava. Sobald ich die Augen schloss, war alles wieder da und mein Herz raste, als läge ich immer noch in seinen Armen. Und das Verrückteste war: Ich sehnte mich so sehr danach, dass ich mir sogar einbildete, seinen Duft wahrzunehmen.
Gegen Morgen hielt ich es nicht länger aus. Ich ließ Kosta die Graue da, stieg über Beine und liegende Körper und erklomm eine schmale Eisenleiter zum Dach. Auch dort fand ich mich zwischen sitzenden und liegenden Leuten wieder. Sie hatten sich Tücher vor Mund und Nase gelegt, um den Wind abzuhalten. »Endlich eine Abwechslung!«, sagte eine Frau mit einer Reibeisenstimme. »Setz dich und sing uns was vor. Irgendein Lied, das wir nicht schon tausendmal gehört haben.«
Sogar die, die eben noch gelegen hatten, setzten sich auf und wandten sich mir zu. Na wunderbar. Schon wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diesmal nicht wegen Wasser, sondern wegen Langeweile.
»Ich … kann nicht singen.«
»Du hast doch eine Stimme. Oder bilde ich mir ein, dass du mit uns redest?«
»Aber Singen ist … es ist nicht meine Gabe.«
Die Leute starrten mich verdutzt an, dann brachen sie in raues Gelächter aus, das der Fahrtwind mit dem Rauch der Lokomotive davontrug.
»Gabe? Wer braucht denn dafür eine Gabe? Wie bringst du denn kleine Kinder zum Schlafen?«
»Sie rechnet ihnen Sternenzahlen vor.« Ich konnte Amads spöttische Antwort fast hören.
»Na los!«, forderte eine fast zahnlose Arbeiterin rüde. »Wenn du hier oben bleiben willst, musst du was
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