Der Dunkle Turm 1 - Schwarz
strampelte sich auf die Beine. Der Revolvermann drückte bereits wieder mit voller Kraft. Er hatte beide Pistolen ins Halfter gesteckt. Sie mußten fliehen.
Seltsame Hände klatschten auf die Metallplatte der Oberfläche der Draisine. Der Junge hielt sich jetzt mit beiden Händen am Gürtel fest und hatte das Gesicht gegen den Rücken des Revolvermannes gepreßt.
Eine Gruppe von ihnen lief auf die Schienen, ihre Gesichter drückten ihre hirnlose, gleichgültige Vorfreude aus. Der Revolvermann war mit Adrenalin vollgepumpt; die Draisine flog in der Dunkelheit auf den Schienen dahin. Sie prallten mit voller Wucht auf die vier oder fünf bemitleidenswerten Gestalten. Diese flogen wie vom Stamm geschlagene verfaulte Bananen auf die Seite.
Immer weiter und weiter, in die stille, fliegende Bansheedunkelheit hinein.
Nach einer Ewigkeit hob der Junge das Gesicht in den Fahrtwind; es graute ihm, doch gleichzeitig mußte er es wissen. Die Schattenbilder des Mündungsfeuers brannten noch auf seiner Netzhaut. Er sah nichts als die Dunkelheit, hörte nichts als das Rauschen des Flusses.
»Sie sind fort«, sagte der Junge, plötzlich voller Angst, die Schienen würden in der Dunkelheit aufhören und sie selbst mit einem vernichtenden Aufprall ihrem tödlichen Ende entgegen von den Schienen springen. Er war schon Auto gefahren; einmal war sein humorloser Vater mit neunzig Stundenmeilen über die Autobahn von New Jersey gerast und war angehalten worden. Aber so wie hier war er noch niemals gefahren, im Wind, blind und mit Schrecken, die hinter ihnen und vor ihnen lauerten, während der Fluß mit kichernder Stimme sprach – mit der Stimme des Mannes in Schwarz. Die Arme des Revolvermannes waren Kolben einer wahnsinnigen menschlichen Maschine.
»Sie sind fort«, sagte der Junge schüchtern, und der Wind riß ihm die Worte aus dem Mund. »Du kannst jetzt langsamer fahren. Wir sind ihnen entkommen.«
Aber der Revolvermann hörte ihn nicht. Sie rasten weiter in die seltsame Dunkelheit.
Sie brachten drei Wach- und Schlafperioden ohne weitere Zwischenfälle hinter sich.
8
Während der vierten Wachperiode (nach der Hälfte? drei Vierteln? sie wußten es nicht – nur, daß sie noch nicht müde genug waren, um anzuhalten) ertönte ein scharfes Poltern unter ihnen, die Draisine schwankte, und ihre Körper folgten sofort der Schwerkraft und neigten sich nach rechts, als die Draisine in eine langgezogene Linkskurve bog.
Vor ihnen war Licht – ein so schwaches und fremdes Leuchten, daß es zuerst ein vollkommen neues Element zu sein schien, weder Erde, Luft, Feuer oder Wasser. Es hatte keine Farbe und konnte lediglich anhand der Tatsache identifiziert werden, daß sie ihre Hände und Gesichter wieder mit einer Dimension zurückerlangten, die über den Tastsinn hinausging. Ihre Augen waren so lichtempfindlich geworden, daß sie den Widerschein schon fünf Meilen, bevor sie sich ihm näherten, wahrnahmen.
»Das Ende«, sagte der Junge gepreßt. »Das ist das Ende.«
»Nein.« Der Revolvermann sprach voll seltsamer Gewißheit. »Ist es nicht.«
Und das war es auch nicht. Sie kamen zum Licht, aber nicht zum Tageslicht.
Als sie dem Ursprung des Widerscheins näher kamen, sahen sie zum ersten Mal, daß die Felswand links von ihnen zurückgewichen war und sich andere Schienen zu ihren eigenen gesellt hatten, die ein komplexes Spinnennetz bildeten. Das Licht zerlegte sie in polierte Vektoren. Auf einigen standen dunkle Güterwaggons, Passagierwagen, eine Kutsche, die auf Schienen umgerüstet worden war. Sie waren wie Gespensterschiffe, die in einem unterirdischen Sargassomeer gefangen waren, und sie machten den Revolvermann nervös.
Das Licht wurde stärker und tat ihren Augen etwas weh, aber es nahm so allmählich zu, daß sie Zeit hatten, sich daran zu gewöhnen. Sie kamen vom Dunkel ins Licht wie Tiefseetaucher, die etappenweise aus unergründlichen Tiefen emporsteigen.
Vor ihnen befand sich ein riesiger Hangar, der allmählich näher kam und sich oben in Finsternis verlor. In ihn waren etwa vierundzwanzig Eingänge geschnitten, die gelbe, erleuchtete Quadrate zeigten und deren Größe von der von Puppenhausfenstern bis zu einer Höhe von sechs Metern wuchs, als sie näher kamen. Sie fuhren durch eine der mittleren Zufahrten ein. Über dieser standen eine Reihe von Schriftzügen in verschiedenen Sprachen, wie der Revolvermann vermutete. Er stellte zu seinem Erstaunen fest, daß er die letzte davon lesen konnte; es
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