Der Dunkle Turm 4 - Glas
Flügelschlags umher.
2
Als es gerade den Anschein hatte, als würde der Nieselregen nie aufhören und das Heulen der Schwachstelle in der stehenden Luft alle in Hambry wahnsinnig machen, wehte ein starker Wind – fast ein Sturm – vom Meer herein und vertrieb die Wolken. Die Stadt erwachte eines Morgens unter einem Himmel wie blauer Stahl und einer Sonne, die die Bucht am Morgen in Gold und am Abend in weißes Feuer verwandelte. Das Gefühl der Lethargie war dahin. Auf den Kartoffeläckern wurden die Wagen mit frischer Tatkraft geschoben. Im Green Heart machte sich eine ganze Armee Frauen daran, die Bühne mit Blumen zu schmücken, auf der Jamie McCann und Susan Delgado dieses Jahr zum Erntejüngling und Erntemädchen gekürt werden sollten.
Auf dem Abschnitt der Schräge, der am dichtesten beim Haus des Bürgermeisters lag, ritten Roland, Cuthbert und Alain mit neuer Entschlossenheit dahin und zählten die Pferde, die das Brandzeichen der Baronie auf den Flanken trugen. Der strahlende Himmel und der frische Wind erfüllten sie mit Energie und guter Laune, und ein paar Tage lang – drei oder vielleicht vier – galoppierten sie johlend, brüllend und lachend in alter Freundschaft hintereinander her.
An einem dieser klaren und strahlenden Tage kam Eldred Jonas aus dem Büro des Sheriffs und ging die Hill Street hinauf in Richtung Green Heart. Heute Morgen hatte er weder Reynolds noch Depape am Hals – sie waren gemeinsam zum Hanging Rock geritten, um nach Latigos Vorhut Ausschau zu halten, die jetzt jeden Tag auftauchen musste –, und Jonas’ Pläne waren simpel: Er wollte ein Glas Bier im Pavillon trinken und den Vorbereitungen dort zuschauen: dem Ausheben der Feuergruben, über denen sich die Bratspieße drehen würden, dem Aufschichten der Scheite für das Freudenfeuer, den erbitterten Auseinandersetzungen darüber, wie die Kracher anzubringen seien, die den Auftakt für das Feuerwerk bilden sollten, den Damen, die die Bühne mit Blumen ausschmückten, wo der diesjährige Jüngling und das Mädchen die Huldigung der Stadt entgegennehmen sollten. Vielleicht, überlegte Jonas, würde er sich ja eines der hübschen Blumenmädchen auf ein Schäferstündchen mitnehmen. Die Wartung der Saloonhuren überließ er ausschließlich Roy und Clay, aber ein knuspriges junges Blumenmädchen um die siebzehn, das war etwas anderes.
Die Schmerzen in seiner Hüfte waren mit dem feuchten Wetter verschwunden; seine gequälte, schlurfende Gangart der vergangenen Woche wieder zu einem bloßen Hinken geworden. Vielleicht würden ein, zwei Biere im Freien ja genügen, aber der Gedanke an ein Mädchen ging ihm nicht aus dem Sinn. Jung, mit reiner Haut und festen Brüsten. Frischem, süßem Atem. Frischen, süßen Lippen…
»Mr. Jonas? Eldred?«
Er drehte sich lächelnd zu der Stimme um. Kein Blumenmädchen mit einer Haut wie Tau, großen Augen und feuchten, leicht geöffneten Lippen stand da, sondern eine magere Frau jenseits der Lebensmitte – flacher Busen, flacher Hintern, verkniffene blasse Lippen und das Haar so straff an den Kopf gespannt, dass es fast schrie. Nur die großen Augen entsprachen seinem Tagtraum. Ich glaube, ich habe eine Eroberung gemacht, dachte Jonas höhnisch.
»Ach, Cordelia!«, sagte er und nahm eine ihrer Hände zwischen die seinen. »Wie bezaubernd Sie heute Morgen aussehen!«
Ihre Wangen bekamen etwas Farbe, und sie lachte zaghaft. Einen Augenblick lang schien sie fünfundvierzig zu sein, nicht sechzig. Dabei dürfte sie noch gar nicht sechzig sein, dachte Jonas. Die Fältchen um ihren Mund und die Schatten unter ihren Augen… die sind erst neueren Datums.
»Ihr seid zu freundlich«, sagte sie, »aber ich weiß es besser. Ich habe kaum geschlafen, und wenn Frauen in meinem Alter nicht schlafen, altern sie zu schnell.«
»Es tut mir Leid zu hören, dass Sie schlecht schlafen«, sagte er. »Aber jetzt, nach dem Wetterumschwung, wird es vielleicht…«
»Es liegt nicht am Wetter. Könnte ich mit Euch reden, Eldred? Ich habe gründlich nachgedacht, und Ihr seid der Einzige, den ich um Rat zu bitten wage.«
Sein Lächeln wurde noch breiter. Er führte ihre Hand unter seinem Arm hindurch und bedeckte sie mit seiner anderen. Nun glich ihre Röte einem Feuer. Mit dem vielen Blut im Kopf redete sie vielleicht stundenlang. Und Jonas hatte eine Ahnung, dass jedes einzelne Wort interessant sein würde.
3
Bei Frauen eines gewissen Alters wirkte Tee weitaus besser als Wein,
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