Der Dunkle Turm 4 - Glas
wegen deren eiskalten Tons.
»Kennst du ihn?«
Der Saftkrug rutschte Susan durch die Finger, und sie hielt sofort eine Hand darunter, damit er nicht zu Boden fiel. Orangensaft war zu kostbar, um vergeudet zu werden, besonders um diese späte Jahreszeit. Sie drehte sich um und sah ihre Tante in der Nähe der Holzkiste stehen. Cordelia hatte ihre sombrera an einen Haken im Durchgang gehängt, trug aber noch den serape und die erdverschmierten Stiefel. Ihr cuchillo lag auf dem Holzstapel, grüne Scharfwurzelranken hingen noch an der Schneide. Cordelias Ton mochte kalt sein, aber ihre Augen erglühten vor Misstrauen.
Plötzliche Klarheit erfüllte Susans Geist und all ihre Sinne. Wenn du Nein sagst, bist du erledigt, dachte sie. Wenn du nur fragst, wen, bist du wahrscheinlich erledigt. Du musst sagen…
»Ich kenne sie beide, Tante«, antwortete sie wie beiläufig. »Ich habe sie bei jenem Empfangsessen kennen gelernt. Du doch ebenfalls. Du hast mich erschreckt, Tante.«
»Warum hat er dich so gegrüßt?«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht war ihm einfach danach.«
Ihre Tante schnellte vor, rutschte dabei mit den lehmigen Stiefeln aus, fing sich aber wieder und packte Susan schließlich an den Armen. Jetzt blitzten ihre Augen geradezu. »Sei Sie nicht so frech zu mir, Mädchen! Sei Sie nicht so schnippisch, Miss O So Jung Und Hübsch, sonst werde ich…«
Susan wich so heftig zurück, dass ihre Tante vielleicht doch noch gestürzt wäre, hätte sie sich nicht am Tisch festhalten können. Hinter ihr bedeckten erdige Fußspuren vorwurfsvoll den Küchenboden. »Wenn Sie mich noch einmal so nennt, hau ich Ihr eine runter!«, schrie Susan. »Das werde ich!«
Cordelia fletschte die Zähne zu einem trockenen, grausamen Lächeln. »Du würdest die einzige Blutsverwandte deines Vaters schlagen? Könntest du so schlecht sein?«
»Warum nicht? Schlägst du mich nicht auch, Tante?«
Die Hitze in den Augen ihrer Tante erlosch etwas, und das Lächeln verschwand. »Susan! Kaum jemals! Kein halbes Dutzend Mal, seit du ein Baby warst, das alles greifen wollte, was ihm in die Finger kam, sogar den Topf mit kochendem Wasser auf dem…«
»Heutzutage schlägt Sie vorwiegend mit dem Mund«, sagte Susan. »Ich habe es ertragen – schön dumm von mir –, aber nun ist Schluss damit. Ich werde es nicht mehr dulden. Wenn ich alt genug bin, für Geld zu einem Mann ins Bett geschickt zu werden, dann bin ich auch alt genug, dass du einen anständigen Ton anschlägst, wenn du mit mir redest.«
Cordelia machte den Mund auf, um sich zu verteidigen – die Wut des Mädchens hatte sie erschreckt, ebenso deren Vorwürfe –, doch dann wurde ihr klar, auf welch geschickte Weise sie da vom Thema der Jungen abgebracht werden sollte. Des Jungen.
»Du kennst ihn also nur von jener Abendgesellschaft, Susan? Ich meine diesen Dearborn.« Wie du wohl weißt, nehme ich mal an.
»Ich habe ihn schon in der Stadt gesehen«, sagte Susan. Sie sah ihrer Tante offen in die Augen, obwohl es sie Anstrengung kostete; Lügen folgten Halbwahrheiten, so wie das Dunkel der Dämmerung folgte. »Ich habe alle drei schon in der Stadt gesehen. Bist du jetzt zufrieden?«
Nein, wie Susan mit wachsendem Missfallen sah, das war ihre Tante nicht.
»Schwörst du mir, Susan – beim Namen deines Vaters –, dass du dich nicht mit diesem Jungen Dearborn getroffen hast?«
Die ganzen Ausritte am Spätnachmittag, dachte Susan. Alle Ausreden. Alle Vorsicht, dass uns niemand sehen sollte. Und alles läuft auf ein achtloses Winken an einem regnerischen Vormittag hinaus. So leicht wird alles gefährdet. Haben wir gedacht, dass es anders kommen könnte? Waren wir so närrisch?
Ja… und nein. Die Wahrheit war, sie beide waren verrückt gewesen. Und waren es noch.
Susan musste unwillkürlich an den Ausdruck in den Augen ihres Vaters denken, wenn er sie einmal bei einer Flunkerei ertappt hatte. Diesen Ausdruck halb neugieriger Enttäuschung. Das Gefühl, dass ihr Geflunker, so unbedeutend es auch gewesen sein mochte, ihm wehgetan hatte, so als hätte er sich an einem Dorn verletzt.
»Ich werde gar nichts schwören«, sagte sie. »Du hast kein Recht, das von mir zu verlangen.«
»Schwöre!«, schrie Cordelia lauthals. Sie tastete wieder nach dem Tisch und hielt sich daran fest, so als wollte sie sich daran abstützen. »Schwöre es! Schwöre es! Das ist kein Fangen- oder Versteckspiel oder Seilhüpfen! Sie ist kein Kind mehr! Schwöre Sie es mir! Schwöre Sie mir, dass
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